Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
wie es überhaupt nur möglich war, gab es niemanden, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnte, und so blieb ihre innere Unruhe nicht unbemerkt.
»Mrs. Benning?«, wisperte Broughton ihr von der gegenüberliegenden Seite des Tisches zu, »geht es Ihnen gut?«
»Hm? Oh, Mylord, ja, selbstverständlich geht es mir gut. Ich habe nur versucht, mich zu erinnern … wie dieses besondere Halstuch heißt, das Sie heute tragen.«
»Das hier?« Träge fingerte er an dem Tuch mit den vielen Falten herum, die wie zufällig aussehen sollten, tatsächlich aber sehr kompliziert zu legen waren. »Es heißt Taubenfeder. Sehen Sie, wie es hier gefaltet ist? Wie der Strich einer Feder? Ich habe es erfunden.«
»Oh, wie fantasievoll Sie doch sind.« Sie lächelte ihn an, legte ein wenig Glut in ihren Blick. »Aber was, wenn Ihre Krawatte gar nicht weiß ist? Was, wenn Ihr Halstuch blau oder orange oder schwarz ist?«
Er erwiderte ihr Lächeln; die Glut in seinem Blick traf auf ihre. »Nun, wenn es blau ist, nennen wir den Knoten einfach Bluebird. Und bei orange Oriole.« Sie zog die Nase kraus, was ihn zum Lachen brachte. »Und bei Schwarz ist es eine Krähe.«
»Oh, nein, bitte nicht die Krähe!«, warf Nora zwei Plätze weiter ein. »Nennen Sie sie doch Rabe. Das ist viel romantischer.«
Broughton warf Nora ein Lächeln zu und verkündete: »Für Sie, Miss de Regis, ist es der Rabe. Aber ich warne Sie, ich besitze das Patent darauf. Niemandem wird es je gelingen, das Geheimnis des Raben zu lüften.«
Phillippa konnte nicht anders, als den Blick über den Tisch schweifen zu lassen; sie bemerkte, dass Marcus sie anschaute.
Niemand, wirklich niemand würde je um das Geheimnis des Raben wissen.
Außer mir, dachte sie mit einem warmen Schauder der Erregung.
Das heißt, bis zum Benning-Ball. Kaum war ihr der Gedanke durch den Kopf geschossen, verschwand die Wärme auch wieder. Es war an ihr, das Geheimnis Blue Ravens zu enthüllen; es würde ihr glanzvollster Augenblick sein; sie würde Geschichte schreiben.
Aber warum erregte es sie dann nicht mehr so sehr, wie es sie einst erregt hatte?
Die ungewöhnliche Befürchtung musste sich auf ihrem Gesicht gespiegelt haben, weil Marcus plötzlich leicht mit der Braue zuckte. Ein sorgenvoller Schatten lag auf seinem Gesicht. Sofort setzte Phillippa wieder ihr Lächeln auf und weigerte sich, weiterhin so trübsinnig darüber nachzudenken. Außerdem tat es ihren Gesichtszügen bestimmt nicht gut, wenn sie beim Nachdenken erwischt wurde.
Und damit lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Broughton und die Tröstungen der Oberflächlichkeit.
Phillippa befand sich in einer Zwickmühle, als sie mit den Frauen in den großen Salon ging, um die Männer ihrem Port zu überlassen. Sie wusste, was Broughton von ihr erwartete; den ganzen Abend über hatte er ihr vielsagende Blicke zugeworfen und unmissverständliche Andeutungen gemacht. Und beim Verlassen des Zimmers war er ihr mit den Augen gefolgt wie ein Löwe auf der Jagd nach seiner Beute. Ihr Herz jedoch, das diesen Vergleich eigentlich gar nicht hätte anstellen dürfen, machte es ihr plötzlich unmöglich, ihr Rendezvous mit Broughton einzuhalten. Nein, es liegt nicht an meinen Gefühlen, sagte sie sich, es ist etwas ganz anderes, es ist so etwas wie Instinkt: Falls Marcus und Byrne tatsächlich am Abend die Gebäude durchsuchten, durfte sie um keinen Preis zulassen, dass sie es allein taten.
Also brauchte sie eine Entschuldigung, sich früh zurückzuziehen. Früh – und allein. Am einfachsten wäre es, ein Unwohlsein vorzuschützen – denn die Grundlage war bereits geschaffen.
In den nächsten zwanzig Minuten gab Phillippa sich unkonzentriert und fahrig. Zudem war es auch nicht unbemerkt geblieben, dass sie sich schon während des Dinners nicht ganz wohlgefühlt hatte.
»Darling, fühlst du dich nicht wohl?«, erkundigte sich Totty und schaute sie über den Rand ihrer Brille aufmerksam an.
Lady Hampshire hatte beschlossen, dass es abends ein wenig Musik geben sollte; bis die Gentlemen wieder aus ihrer Männerrunde auftauchten, gestattete sie es den jüngeren Damen, auf dem Pianoforte zu spielen und ihre Stimme zu üben. Daher musste Totty ein wenig lauter sprechen als gewöhnlich, um verstanden zu werden. Und Phillippa musste etwas lauter antworten.
»Totty, ich fürchte, ich habe leichte Kopfschmerzen … «, fing sie an. Tottys Nicken unterbrach sie.
»Gute Güte, ja, es ist schrecklich laut hier drinnen. Man kann ja sein eigenes
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