Ein süßer Sommer
mindestens vier Wochen, bis sein Töchterchen aus dem Inkubator in eine Wiege verlegt werden könnte. Hamacher hörte mir trotzdem noch einmal aufmerksam zu. Zu dem Leitz-Ordner konnte er mir nur sagen, dass die alte Frau Mader gestern Nachmittag die Überzeugung geäußert hatte, sie habe den Übeltäter ausfindig gemacht. Wenn wir uns das bitte schön einmal anschauen wollten, es sei der Computer, der ändere eigenmächtig die Zahlen.
«Vergiss den Quatsch», meinte Hamacher.
«Die Frau hat einen Sprung in der Schüssel. Sie ist über siebzig, hält Computer vermutlich für Teufelswerk und sich für unentbehrlich. Aber sie kommt nur zum Zuge, wenn der Geschäftsführer unterwegs ist. Schau dir den letzten Bericht von Uli an. Ich glaube, da zeichnet sich ein konkreter Verdacht ab.» Nachdem das gesagt war, wünschte er mir ein paar erholsame Tage. Und ich sah mich im Geist bereits Candy bei älteren Freunden ihrer Mutter abholen, mit ihr über die Domplatte schlendern, dem Wallraf-Richartz-Museum einen Besuch abstatten, einen Bummel durch die Altstadt machen und einen Spaziergang zum Cranachwäldchen, wo wir am Rheinufer gemeinsam Wasserproben entnehmen könnten. Candy wartete schon vor dem Eingang, als ich zurückkam. Den neu erworbenen Stadtplan in der Hand, betrachtete sie gedankenversunken die Messingtafeln an der Fassade. Das Gebäude wurde ausschließlich gewerblich genutzt, auf den Tafeln konnte man die beruflichen Aktivitäten der jeweiligen Mieter nachlesen. Parterre residierte ein Reisebüro für spezielle Touren; quer durch die Sahara oder drei Wochen Grönland. Im ersten Stock der Ableger einer Versicherung, die bei jedem größeren Schadensfall aus Prinzip von Betrug ausging. Für die Leute waren wir schon mehrfach im Einsatz gewesen. Im zweiten Stock die Agentur Hamacher, im dritten ein karitativer Verein, der so karitativ gar nicht sein konnte, wenn er sich die Miete hier leistete, im vierten saß ein Steuerberater und im fünften ein Rechtsanwalt.
«Hier arbeiten Sie?», fragte Candy. Es klang nach Höflichkeit, nicht nach Interesse.
«Wo denn?»
«Im vierten Stock», schwindelte ich, weil ich das abfällige Grinsen bei meiner Berufsbezeichnung eben nicht mochte. Einem Laien gegenüber hätte ich den opulenten Inhalt des Leitz-Ordners durchaus als Steuerunterlagen ausgeben können. Aber es war ein Fehler, Candy nicht sofort die Wahrheit zu sagen. Und wie das mit Lügen so ist, einmal in die Welt gesetzt, schafft man sie nicht so leicht wieder raus. Nachdem wir wieder ins Auto gestiegen waren, widmete Candy sich ihrem Stadtplan und entschied, wir müssten zuerst nach Köln-Klettenberg. Danach war sie eine Weile still, betrachtete die Häuserzeilen, atmete mehrfach vernehmlich ein und aus, um plötzlich mit wehmütiger Stimme zu erklären:
«Das ist ein komisches Gefühl. Wenn ich mir vorstelle, dass meine Mutter hier gelebt hat. Vielleicht ist sie oft diese Straße entlanggegangen. Und ein paar von den älteren Leuten da draußen sind ihr vielleicht begegnet. Aber wenn man sie fragen würde, es würde sich keiner erinnern. Ich finde das schlimm, dass man so einfach an Menschen vorbeiläuft, sie gar nicht richtig sieht und gleich wieder vergisst.» Es klang nach Trauer und ließ sich mit der unermüdlichen Stimme, die mir kurz vorher noch von der schönen Zeit mit Mami erzählt hatte, nur schwer vereinbaren. Ich wollte irgendetwas sagen und fand auf die Schnelle nur eine Banalität.
«So ist das nun mal in einer Großstadt. An wie vielen Leuten bist du schon vorbeigelaufen, ohne sie bewusst wahrzunehmen? Wenn man sich jedes Gesicht merken wollte, dem man begegnet, hätte man im Hirn bald nur noch ein Fotoalbum und daneben keinen Platz mehr für etwas anderes.»
«Ja», seufzte sie,«da haben Sie wohl Recht.» Dann lächelte sie wieder und kehrte damit die verhangene Atmosphäre im Wagen unter die Fußmatten. Bis zum ersten Ziel unterhielt sie mich mit den Jahren ihrer Mutter in Köln, wurde nicht müde, Einzelheiten vor mir auszubreiten. Als ob es etliche Jahre gewesen wären und jeder einzelne Tag eine immense Bedeutung gehabt hätte. Ganz ohne Zweifel war ihre Mutter eine wahre Bereicherung für die Stadt gewesen. Hin und wieder schwang ein wenig Zorn auf die undankbare Bevölkerung mit, die es bislang versäumt hatte, Candys Mutter ein Denkmal zu setzen. In den ersten Monaten hatte
«meine Mutter» in einer Wohngemeinschaft gelebt. Das hatte jedoch nicht ihrem Lebensstil und ihrem Charakter
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