Ein süßer Sommer
Schnellhefter mit einer Auflistung von Schadensfällen, Lebensläufen und nicht immer aktuellen Fotos der gesamten Belegschaft eines mittelständischen Betriebs sowie Berichten meiner Kollegen Uli Hoger und Philipp Assmann, die in der Sache bereits aktiv gewesen waren, bis zu meiner Abreise nach München leider ohne nennenswerten Erfolg. Darüber war ich bereits in groben Zügen informiert. Auftraggeber war der Geschäftsführer der Firma Mader, die Maschinenteile herstellte und auch ins Ausland lieferte. In den vergangenen Monaten waren mehrfach Aufträge sabotiert, vielmehr Bestellungen manipuliert worden. Nach ein paar kleineren Schäden, die zwar einigen Ärger mit der Kundschaft verursacht, sich finanziell jedoch im Rahmen gehalten hatten, war Ende Mai der Hammer gekommen. Aus fünfzig Kugellagern, die nach Südafrika geschickt werden sollten, waren zwischen der Bestellung des Kunden und der Auslieferung auf wundersame Weise fünftausend geworden. Das war mächtig ins Geld gegangen. Herstellungskosten, Verschiffung, zurückgeholt werden musste der Kram auch wieder, und auf Lagerhaltung war die Firma Mader gar nicht eingestellt. Der erste Verdacht war auf eine junge Angestellte gefallen, die Bestellungen entgegennahm, Auftragsbestätigungen einholte und an die Fertigung weiterleitete. Die Frau wies die Vorwürfe weit von sich. Dass sie sich
«mal» vertippt haben könnte, war bei der Häufung der Schadensfälle auch auszuschließen. Da sie sich kürzlich ein neues Auto zugelegt hatte, vermutete der Geschäftsführer, sie sei von der Konkurrenz bezahlt worden. Deshalb hatten sich Uli Hoger und Philipp Assmann abwechselnd auf Umfeld und Kontakte der Angestellten konzentriert, aber nichts Verdächtiges herausgefunden. Nun sollte ich ab Donnerstag innerbetrieblich als neuer Buchhalter auf Horchposten gehen und alle Belegschaftsmitglieder unter die Lupe nehmen, die Zugang zu den Büroräumen hatten – oder sich den unberechtigterweise verschafften. Meinen Kurzurlaub verdankte ich der Tatsache, dass der Geschäftsführer erst am Mittwoch von einer Auslandsreise zurückkam und es vermeiden wollte, dass ich mich mit der Seniorchefin auseinander setzen musste. Bei der zweiten Mappe, die laut Frau Grubert erst am vergangenen Nachmittag von der Seniorchefin persönlich hereingereicht worden war, handelte es sich um einen Leitz-Ordner, so prall mit Papier gefüllt, dass kein Schnipsel mehr unter die Klemme gepasst hätte. Beim Durchblättern sah ich Unmengen Kopien von Bestellungen, Auftragsbestätigungen, Fertigungsprotokollen, Frachtbriefen, Rechnungen, Mahnungen und Reklamationen. Das allein müssen zwischen drei- und vierhundert Seiten gewesen sein. Dahinter folgte noch eine rund fünfzig Seiten starke kryptographische Liste mit so aufschlussreichen Notizen wie:
«Gam-Be. 2. . – 2 KB / Erto-Be. 2. . – 2 KB / Halag-Be. 2. . – 2 KB / Fer-Gam. 2. . – KB / Fer-Erto. 2. . – KB / Fer-Halag. 2. . – KB»
«Was soll ich denn damit?», fragte ich verblüfft. Frau Grubert hatte in der Zwischenzeit zum Telefonhörer gegriffen, gewählt und auch etwas gesagt, was ich nicht richtig mitbekommen hatte. Nun lauschte sie aufmerksam ins Telefon und gab mir mit einem unwilligen Handzeichen zu verstehen, sie habe jetzt keine Zeit für ausführliche Erläuterungen. Wer nicht kommt zur rechten Zeit, muss eben sehen, wie er klarkommt. Ich hätte ja gestern Abend antanzen können. Auf ihre Art war Frau Grubert ein Biest, aber vielleicht wusste sie auch gar nicht, was ich mit dem Inhalt des Leitz-Ordners anfangen sollte. Den Schnellhefter mit Berichten und Lebensläufen brachte ich in meinem Aktenkoffer unter. Den prallen Ordner klemmte ich mir erst mal unter den Arm, ließ Frau Grubert am Telefon zurück und schaute noch kurz ins geräumige und komfortabel eingerichtete Nebenzimmer, um von Hamacher Aufklärung über all das Papier und die kryptographische Liste zu erhalten. Hamacher kannte auch kein Wochenende, was nicht immer nur an der Arbeit lag. Er hatte Familie, Frau, Sohn und Tochter, beide im Teenageralter und mit einem überaus großen Freundeskreis gesegnet, der sich gerne bei ihm zu Hause aufhielt. Da war es in der Firma entschieden ruhiger. Wenn nichts Besonderes anlag, kam er am Samstagvormittag eben her, um ungestört ein paar Zeitungen zu lesen. Dass in München alles glatt gegangen war, wusste er längst von Hartmut Bender, der sich gleich nach der Landung gemeldet und um seinen Vaterschaftsurlaub ersucht hatte –
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