Ein süßer Sommer
entsprochen. Die späten sechziger Jahre waren ja eine wilde Zeit gewesen. Protest an allen Ecken, Revolution in allen Betten, sexuelle Befreiung und so weiter. Es ging drunter und drüber. Jede trieb es mit jedem. Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment. So ein Durcheinander.
«Meine Mutter» hatte sich natürlich nicht daran beteiligt. Ganz freimütig erklärte Candy mir ihre Ansichten zum Thema freie Liebe. Sie stimmte völlig mit ihrer Mutter überein. Ein großes Gefühl musste einfach dazugehören, wenn man mit einem Mann schlief. Nur mal so zwischendurch, vielleicht einfach aus Neugier mit irgendeinem, das kam überhaupt nicht in Frage.
«Sie hat dann das Zimmer in Klettenberg bekommen», fuhr Candy fort.
«Ein Freund hat ihr das vermittelt, normalerweise vermietete die Hausbesitzerin nämlich nicht an Studentinnen. Aber der Freund meiner Mutter war der Sohn der Hausbesitzerin. Da hat sie eine Ausnahme gemacht.» Ein paar Minuten später hielten wir vor einem älteren Einfamilienhaus. Dass ich im Wagen warten wollte, hatte ich ihr bereits hinlänglich erklärt. Nun schien sie doch dankbar für meine Bereitschaft. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass es mir wirklich nichts ausmache und ich mich zu beschäftigen wüsste, auch wenn es sehr lange dauern sollte. 2
«Keine Sorge», sagte ich und nahm den Leitz-Ordner in den Schoß.
«Hierfür brauche ich etliche Stunden.» Das war optimistisch geschätzt. Hätte ich tatsächlich das ganze Papier durcharbeiten wollen, hätte ich wohl einige Tage veranschlagen müssen und meinen Kurzurlaub vergessen können. Candy nickte, biss sich auf die Lippen, knetete ihre Hände, ihr Lächeln bestand nur noch aus wilder Entschlossenheit.
«Dann mal los», murmelte sie und etwas lauter:
«Drücken Sie mir die Däumchen, dass jemand da ist.» Ich drückte ihr die Däumchen, bis sie ins Haus gelassen wurde. Nachdem sich die Tür wieder hinter ihr geschlossen hatte, klappte ich den Ordner auf und überflog die kryptographische Liste, wobei mir Hamachers Stimme im Hinterkopf tickte.
«Die Frau hat einen Sprung in der Schüssel.» Den Eindruck hatte ich auch. Mit dem Hinweis auf einen Computer als Übeltäter musste ich nicht lange raten, was sich hinter den mysteriösen Kürzeln verbarg. Dateibezeichnungen, Speicherdaten und Kilobyteangaben. Es sah aus, als hätte die Seniorchefin den kompletten Bestand einer oder sogar mehrerer Festplatten abtippen lassen, einschließlich sämtlicher Programm- und Systemdateien. Ich legte den Ordner wieder auf die Rückbank und nahm mir stattdessen den Schnellhefter vor, um Uli Hogers letzten Bericht zu lesen, wie Hamacher es mir empfohlen hatte. Sehr weit kam ich mit meiner Lektüre allerdings nicht. Schon nach einer knappen Viertelstunde kam Candy zurück. Die Enttäuschung ließ ihre Lippen zittern. Sie stieg ein, versuchte ein Lächeln, das ihr kläglich misslang, und bot eine sonderbare Erklärung für den neuerlichen Stimmungsumschwung:
«Leo Scherer. Der Löwe Leo, darauf hätte ich auch von selbst kommen können.» Unvermittelt lachte sie auf, es klang nach Galle.
«Pastor ist er geworden. Oder sagen die hier Priester? Ist ja egal. Er soll früher schon so fromm gewesen sein. Da hätte ein Lämmchen aber besser zu ihm gepasst.» Ein verständnisloses Kopfschütteln beendete den Satz. Ich bekam noch die Auskunft nachgereicht.
«Er wohnt nicht mehr hier. Seine Mutter erinnerte sich noch sehr gut an meine Mutter. Aber sonst wusste sie angeblich nichts. Und ich dachte schon …» Was sie dachte, blieb offen. Und ich machte mir nicht gleich großartige Gedanken über ihre Enttäuschung, amüsierte mich nur ein wenig darüber, hütete mich jedoch, zu grinsen. Ich kannte sie noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden, doch ich fand, es passte zu ihr, einfach irgendwo aufzutauchen.
«Hallo, da bin ich. Ich heiße Candy. Schöne Grüße von meiner Mutter.»
«Du hättest dich vielleicht doch besser angemeldet», sagte ich.
«Wenn man unverhofft vor einer Tür steht, muss man immer damit rechnen, die Leute nicht anzutreffen. Und nach so langer Zeit, ich meine, damals waren das Studenten, die sind doch längst in alle Winde zerstreut.» Aus den Augenwinkeln sah ich ein abfälliges Lächeln. Und als ich sie direkt anschaute, sah ich das Braun in ihren grünen Augen. Es verlieh ihrem Kindergesicht für einen Moment eine fast arktische Kälte. Ihre Stimme klang ebenfalls nach jahrhundertealtem Eis.
«Ich habe nicht
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