Ein süßer Sommer
Aber er war nie wirklich für uns da und hat nie begriffen, was er meiner Mutter damit angetan hat.» Ihr Oberkörper wiegte sich leicht vor und zurück, was ihr aber anscheinend sofort bewusst wurde. Sie richtete sich gerade auf, umfasste mit beiden Händen das obere Knie und schaute Hamacher direkt an.
«Haben Sie schon einmal davon gehört, dass viele Ärzte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen bestimmten Tumorformen und der Psyche sehen? Meine Mutter ist ein klassischer Fall. Sie hätte gerne mehr Kinder bekommen, mein Vater wollte das nicht und wusste es zu verhindern. Da wurde sie krank. Zuerst die linke Brust, da war ich fünf. Als man ihr die rechte amputieren musste, war ich sieben und schon alt genug, um meinem Vater für einige Zeit Gesellschaft zu leisten. Als ich zehn war, mussten ihr die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernt werden. Danach eine Niere. Jetzt ist es der Darm, inoperabel, sagen die Ärzte. Sie wird im Höchstfall noch ein Vierteljahr leben. Dass ich hier bin, weiß sie nicht. Niemand weiß das. Sollte meine Familie davon erfahren, werde ich eine Menge Ärger bekommen. Aber ich würde alles tun, wirklich alles, um meiner Mutter zu ermöglichen, diesen Mann noch einmal zu sehen, bevor sie …» Ihre Stimme brach. Die Augen wurden so rund und groß, dass es einen Stein erweicht hätte.
«Es wird für den Mann keinerlei Scherereien geben, das verspreche ich. Zurzeit ist meine Mutter daheim. Aber in drei oder vier Wochen muss sie wieder in die Klinik. Und so beschäftigt, wie mein Vater immer ist, kann ich es arrangieren, dass sie dort besucht wird, ohne dass er oder sonst jemand davon erfährt. Ich will doch nur, dass sie sich noch einmal daran erinnert, wie schön Leben sein kann. Wenn ich mit dem Mann reden könnte, für ihn wäre es doch eine Kleinigkeit, an einem Tag zu erledigen. Und er hat sie doch auch einmal geliebt.» Hamacher blieb kühl und sachlich, in keiner Weise angerührt.
«Das ist eine sehr traurige Angelegenheit, Frau Schmitt», sagte er.
«Und wenn ich eine wirtschaftlich vertretbare Möglichkeit sähe, würde ich Sie nicht abweisen. Aber wie ich schon sagte, ich halte es für völlig aussichtslos.»
«Aber dieser Vermieter lügt.» Candys Stimme kippte verdächtig.
«Wenn Sie wenigstens einmal mit ihm reden könnten. Bitte, oder schicken Sie einen Ihrer Mitarbeiter. Ich habe mich da vielleicht falsch benommen. Ich bin zu heftig geworden. Aber Sie, bitte, wenn ein Mann wie Sie mit ihm spricht, bekommt es doch viel mehr Gewicht. Er wird Ihnen den Namen nennen, da bin ich sicher. Und wenn man den Namen hat, ist es doch einfacher.»
«Haben Sie sich nie gefragt, warum Ihre Mutter den Namen verschweigt?», wollte Hamacher wissen.
«Dafür muss es doch Gründe geben.»
«Ich sagte doch, er war damals gebunden. Meine Mutter wollte ihm keine Schwierigkeiten …»
«Das ist kein Grund», schnitt Hamacher ihr das Wort ab.
«Es tut mir wirklich Leid, Frau Schmitt. Aber ich kann nichts für Sie tun.» Mit dem letzten Wort erhob er sich auch bereits und deutete einladend auf die Tür zum Vorzimmer. Es war ein glatter Rauswurf. Candy stand notgedrungen ebenfalls auf. Dann war auf dem Monitor nur noch Flackern zu sehen. Ich saß noch minutenlang in Hamachers Sessel und fühlte mich wie der größte Trottel aller Zeiten, weil sie mir doch schon im Zug erzählt hatte, dass ihre Mutter an Krebs erkrankt war. Gleichzeitig war ich wie vor den Kopf gestoßen und dankbar, dass Hamacher nicht in der Nähe war. Jetzt bekam alles einen Sinn, ihre Enttäuschung über den Löwen Leo, der nicht mehr daheim wohnte, und seine Mutter, die angeblich nichts wusste – oder nichts sagen wollte. Ihre Wut über den vermeintlich lügenden Vermieter in Köln-Sülz, ihre bodenlose Verzweiflung, die Hilflosigkeit, ihr Telefongespräch mit Mami, die Flunkereien und die Tränen. Und das passte nicht zu Hamacher, das nicht. Er war kein mildtätiger Menschenfreund, und seine Agentur war nicht die Caritas oder das Rote Kreuz. Zudem waren wir ziemlich ausgelastet mit Aufträgen. Aber so eine kleine Spielerei nebenher, aus Spaß an der Sache oder um der alten Zeiten willen. Dass er einem verzweifelten jungen Mädchen solch eine Bitte hatte abschlagen können, wollte mir nicht in den Kopf. Gut, sie hatte es auch bei ihm falsch angefangen. Doch was tat man nicht alles in der Not? Es war nicht völlig aussichtslos. Und wirtschaftlich vertretbar, solch einen Quatsch hatte ich bis dahin noch nie von
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