Ein süßer Sommer
war es weit nach Mittag. Der Nachmittag war unterrichtsfrei, Frau Studienrätin daheim. Ein strenger Typ war sie, das Haar straff zurückgebunden, ein herbes Gesicht mit einem schmallippigen Mund und zwei tiefen Kerben über der Nasenwurzel. Sie war entschieden weniger offen und hilfsbereit als ihre Eltern, erinnerte sich erst mal an gar nichts. Natürlich hatte sie in Köln studiert. Aber Helga Kuhn? Nein, beim besten Willen, der Name sagte ihr gar nichts. Ich zeigte ihr Helga, August . Beim Anblick des scheuen Rehs im knöchelhohen Gras schien bei Frau Studienrätin etwas zu klingeln. Doch vorerst blieb sie bei einem Achselzucken. Ich zeigte ihr den schwarzen Porsche samt Fahrer und hatte das Gefühl, dass Erika Jungblut sämtliche Jugendsünden auf einmal einfielen. Da kam so etwas wie ein Lächeln zustande, wissend und abfällig. Sie verlangte, Helga noch einmal zu sehen, dann wollte sie erst einmal wissen, in wessen Auftrag und aus welchen Gründen ich mich erkundigte. Ich erklärte es ihr so, wie ich es sah, weil Tante Helga sich nicht mit Candys Ausbrüchen von Verzweiflung vereinbarte. Ein Löffel Honig auf der Suche nach Mamis verlorener Glückseligkeit. Der letzte Liebesbeweis für eine Sterbende, an der das Leben vorbeigerauscht war, mit etwas Entgegenkommen und gutem Willen durchaus erfüllbar. Helgas jämmerliches Schicksal rührte auch Frau Studienrätin ein wenig, immerhin war sie im gleichen Alter und zitterte jedes Mal ein bisschen vor der Krebsvorsorge. Sie glaubte sich nun zu erinnern, ein paar Seminare zusammen mit Helga besucht zu haben. Durchaus möglich, dass Helga auch zwei- oder dreimal in ihrer Studentenbude gewesen war, um Vorlesungsmitschriften vorbeizubringen. Aber dass Helga bei solch einer Gelegenheit mit dem Porschefahrer zusammengetroffen war, wollte Erika Jungblut ausschließen. Das dürfte an der Uni passiert sein, meinte sie. Da trieb er sich häufig herum, versuchte die jungen Wilden für antiquierte Politik zu begeistern und Nachwuchs für seine Partei zu requirieren. Auf die Weise hatte auch Erika Jungblut seine Bekanntschaft geschlossen. Aber als Gastdozenten konnte man ihn nicht bezeichnen. Eine Affäre zwischen dem Porschefahrer und Helga hielt die Frau Studienrätin für durchaus denkbar. Sie mussten ja wohl ein kurzes Verhältnis gehabt haben, wenn Helgas Tochter ein Foto von ihm besaß. Aber davon hatte Erika Jungblut wirklich nichts mitbekommen. Es konnte auch nur ein sehr kurzes Verhältnis gewesen sein. Länger als ein paar Wochen hätten seine Affären nämlich nie gedauert, erklärte sie und nannte mir seinen Namen. Und plötzlich bekam Hamachers strikte Ablehnung, diesen Auftrag zu übernehmen, einen Sinn. Ich dachte an sein Stirnrunzeln beim Anblick des Fotos. Hamacher hatte ihn wohl auf Anhieb erkannt, seinen Stammkunden, der ihm aus den Anfängen als Detektiv erhalten geblieben war. Den Widerling, über den wir Mitarbeiter im Außendienst von Zeit zu Zeit herzogen. Ministerialrat Dr. Holger Gerswein. Inzwischen in den Fünfzigern und immer noch auf der Jagd nach frischem Fleisch, das er aus Sicherheitsgründen durch Hamachers Mitarbeiter abklopfen ließ, damit ihm im Anschluss an sein Vergnügen keine dumm kam. Mit einem Mal erschien Hamachers Weigerung in einem ganz anderen Licht. Wirtschaftlich nicht vertretbar, das war wohl nur ein eleganter Ausdruck für ersparte Enttäuschung. Dass Holger Gerswein sich ans Sterbebett einer ehemaligen Geliebten bequemte, konnte auch Erika Jungblut sich nicht vorstellen. Es sei anzunehmen, dass er sich überhaupt nicht an Helga erinnere, weil es einfach zu viele gewesen wären, meinte sie. Er würde seine Aufmerksamkeit vermutlich eher der Tochter widmen. Das befürchtete ich auch. Und sollte er Candy jemals in diesem sündhaft kurzen Kostümrock zu Gesicht bekommen, würde er sich wahrscheinlich überzeugen wollen, ob sie darunter auch warm genug oder – sollte die Hitzewelle noch länger anhalten – nicht zu warm angezogen war. Ich hatte noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Wir Außendienstler kamen in der Regel nur mit Auftraggebern in Berührung, wenn wir, wie es mir ab Donnerstag bevorstand, innerbetrieblich tätig werden mussten. Ansonsten beschränkten sich die Kontakte auf den Chef der Agentur und auf Frau Grubert. Doch man musste Holger Gerswein nicht persönlich kennen, um ihn nicht zu mögen. Erika Jungblut mochte ihn auch nicht – oder nicht mehr, nannte ihn nur noch abwertend den schönen Holger. Damals schon
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