Ein süßer Sommer
mehr blicken, in seinem Parteibüro verleugnen. Erst als ich Druck machte, kam er noch einmal vorbei, gab mir ein paar Mark und beschwor mich, ihn nicht zu kennen, falls seine Verlobte oder sonst wer nach ihm fragen sollte. Ich nehme an, die Braut war ihm auf die Schliche gekommen und hatte ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Da musste er es zwangsläufig mit einem sittsamen Leben probieren. Im Herbst hat er geheiratet, ein paar Presseleute waren dabei, so habe ich davon erfahren. Danach verschwand er aus den Telefonbüchern. Wo er heute ist, kann ich nur vermuten.» Auf ihre Vermutungen war ich nicht angewiesen. In der Agentur mussten seine Daten in mindestens drei Computern gespeichert sein. Im Chefbüro, bei Frau Grubert im Vorzimmer und bei unserer tüchtigen Tamara im Sekretariat, wo Berichte und Rechnungen geschrieben wurden. Gersweins Privatanschrift war vermutlich nicht vermerkt. Es war nicht anzunehmen, dass er sich Post von der Agentur nach Hause schicken ließ, wo sie seiner von und zu in die Hände hätten fallen können. Seine Büroadresse oder Telefonnummer könnte ich mir jedoch beschaffen, nahm ich an. Natürlich nicht bei Hamacher oder Frau Grubert. Tamara arbeitete nur zu den üblichen Bürostunden. Ab fünf Uhr nachmittags war ihr Platz nicht mehr besetzt. Dann müsste ich nur aufpassen, dass Frau Grubert, die ihre Augen überall hatte, mich nicht erwischte. Dass ich meinen Job aufs Spiel setzte, wenn ich unberechtigt auf Kundendaten zugriff und Informationen an eine außenstehende Person weitergab, war mir sehr wohl bewusst. Doch das war mir egal. Ich bedankte mich bei Erika Jungblut und machte mich auf den Heimweg, den Kopf so voller Gedanken, dass daneben kein Platz für Besorgnis um die eigene Person war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste es wirklich nicht. Was immer Helga ihren Tagebüchern anvertraut oder was Candy sich aus den kryptischen Schriftzeichen und Margaretes Berichten zusammengereimt haben mochte, die Geschichte stimmte hinten und vorne nicht. Das fing schon bei den glücklichen Monaten an. Aber gut, Gersweins Affäre mit Helga mochte ausnahmsweise länger gedauert haben als alle anderen. Weil Helga um einiges anschmiegsamer, ergebener, unerfahrener und naiver gewesen war als ihre Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen. Ohne eine komplette Übersetzung des verschlüsselten Tagebuchs ließ sich dazu nichts sagen. Dass der schöne Holger jedoch nach ihrer Flucht aus Köln ganz Deutschland nach seiner Liebsten abgesucht und bei ihrer Familie um Auskunft über ihren Verbleib gebettelt haben sollte, durfte man ausschließen. Das passte nun wirklich nicht zu ihm. Auf dem ersten Stück Weg überlegte ich, noch zur Agentur zu fahren, um mit Hamacher zu reden und mir von ihm bestätigen zu lassen, was ich dachte. Bring Candy um Gottes willen nicht mit diesem Lüstling zusammen. Den kümmert es einen Dreck, ob eins von seinen früheren Blümchen jämmerlich verdorrt. Er legt das Mädchen flach, reiht Candy in seine Sammlung ein, vielleicht als Kuriosum. Wahrscheinlich hatte er das noch nicht, zuerst die Mutter und zwanzig Jahre später die Tochter. Doch dann sah ich Candy mit Rucksack und Tasche ins Zugabteil kommen – und im roten Kostüm in Hamachers Büro sitzen. Als Mauerblümchen oder schüchtern konnte man sie nun wirklich nicht bezeichnen. Vermutlich war sie gar nicht Gersweins Typ. Ich konnte nicht beurteilen, ob sein Geschmack sich mit den Jahren gewandelt hatte. Da hätte ich die Kollegen fragen müssen, die schon in seinem Auftrag junge Mädchen auf ihre Gesinnung und ihr Umfeld geprüft hatten. Und wie sollte ich Hamacher erklären, womit ich mir die Freizeit vertrieb? Dass ich einfach so ein mir völlig unbekanntes junges Mädchen mit nach Hause genommen hatte, weil meine Beschützerinstinkte oder sonst etwas geweckt worden waren. Und dass ich meinen Kurzurlaub nutzte, um einem unserer Stammkunden auf die Spur zu kommen. Natürlich hatte ich das nicht ahnen können, als ich zu recherchieren begann. Begeistert von meinen Bemühungen wäre Hamacher trotzdem mit Sicherheit nicht. Und wenn er mir untersagte, Candy diesen ersten Erfolg zu vermelden, was sollte ich dann tun? Also verzichtete ich auf den Abstecher zur Agentur, hielt nur noch einmal bei einem Postamt und überzeugte mich, dass Holger Gerswein in den Telefonbüchern wirklich nicht zu finden war und die Auskunft seine Nummer auch dann nicht preisgab, wenn man behauptete, es ginge um Leben und Tod.
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