Ein süßer Sommer
darunter das Datum: . April . Und übermäßig dick sah sie auf dem Foto nicht aus – im Gegenteil. Aber da ich beim Umblättern der Seiten alles erzählte, was ich von Candy gehört hatte, kam ich nicht großartig zum Nachdenken, zum Rechnen schon gar nicht. Der Nachmittag verging wie im Flug. Es war schon fast halb sieben, als wir bei dem Grabstein und dem Weihnachtsfoto von mit den drei schwarz gekleideten Personen auf der Couch ankamen. Zwei Frauen, ein Mann. Links außen eine kräftige Person mittleren Alters – Margarete, in der Mitte ein zierliches Geschöpf mit hellblondem Haar, das den Kopf gesenkt und etwas unter die Nase hielt, sodass vom Gesicht nichts zu erkennen war, trotzdem war ich überzeugt, dass es sich um Helga handelte. Sie trug nämlich ein längeres Kettchen mit einem Anhänger, ein Buchstabe, zweifellos ein H. Rechts neben ihr saß ein junger Mann, der einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte, den Kopf ebenfalls gesenkt und ihr zugeneigt hielt, als sage er ein paar tröstende Worte oder fordere sie auf, den Kopf zu heben und in die Kamera zu lächeln. Dad, da waren meine Schwester und ich uns gleichermaßen sicher.
«Wahrscheinlich war gerade die Oma gestorben», meinte Ina. Auch mit der Lupe war die Inschrift auf dem Grabstein nicht zu lesen, dafür lag der Blumenschmuck zu hoch. Es sah jedenfalls nach einem frischen Begräbnis aus. Dass Helga bei ihrem letzten Aufenthalt in Köln Frau Scherer gegenüber den Tod ihrer Mutter ins Frühjahr verlegt hatte, hielt ich für eine Lüge. Sie hatte schließlich auch behauptet, ihr Studium in Hamburg wieder aufnehmen zu wollen und mit keinem Wort ihre Ehe und die kleine Tochter erwähnt. Ina vermisste ein Hochzeitsbild. Vielleicht stand es auf Helgas Nachttisch, oder es hatte nie eins gegeben, weil Dad es nicht geschafft hatte, sich zur Trauung umzuziehen. Wir plauderten noch ein paar Minuten über seine Schusseligkeit. Dann verstaute ich das Album wieder in der Reisetasche, weil wir davon ausgingen, dass Candy jeden Moment zurückkäme. Inzwischen war es sieben. Um die Zeit schlossen die meisten Cafés. Es war auch anzunehmen, dass Holger Gerswein daheim erwartet wurde. Um Viertel nach sieben musste Ina sich notgedrungen verabschieden, weil sie um acht mit Mann und Sohn ins Kino wollte. Candy war auch um acht noch nicht zurück. Ich machte mir was zu essen, nur ein paar Spaghetti, in einem Stückchen Butter geschwenkt, weil ich keine Lust auf eine Orgie am Herd hatte. Dazu spendierte ich mir ein Glas Wein, hörte mir zweimal eine Aufnahme der Londoner Philharmoniker an und fragte mich, ob Holger Gerswein inzwischen wusste, wer ihn für eine Schülerzeitung interviewt hatte, und ob Candy nur so lange ausblieb, weil er Helgas Leidensgeschichte in allen Einzelheiten hören wollte. Darüber geriet ich ein bisschen in Panik. Was nun, wenn der schöne Holger umgehend bereit war, Candy ans Sterbebett ihrer Mutter zu begleiten? Auch unverbesserliche Herzensbrecher mochten Mitleid empfinden oder sich geschmeichelt fühlen, weil ein ehemaliges Blümchen aus lauter Sehnsucht elend zugrunde ging. Vielleicht wollte er sich dann schon morgen an seiner Einmaligkeit weiden. Nein, das ging nicht, beruhigte ich mich. Zuerst musste Mami wieder in die Klinik. Dad durfte ja nichts erfahren. Um zehn wurde ich ziemlich nervös, sah Candy im Geist an Gersweins Arm auf das Apartmenthaus mit Rheinblick zugehen und dachte, ich wäre dem Taxi besser gefolgt und in ihrer Nähe geblieben. Aber mit meinem Coupé wäre ich schnell aufgefallen. Und nach Mittag in einem Fahrzeug der Agentur nach Hause zu fahren und zu behaupten, ich hätte in der Werkstatt einen Leihwagen genommen – daran hätte ich früher denken müssen. Ich hörte zum dritten Mal dem Londoner Philharmonie- Orchester zu, trank noch ein Gläschen Wein und meinte, die kleine Couch dufte nach ihr. Um zwölf war die Weinflasche leer und ich so voll, dass ich ins Bett gehörte. Doch ehe ich mich hinlegte, wollte ich das Bett für sie vorbereiten. Und da fand ich es dann endlich – das Gebetbuch. Es steckte in der Couch und rutschte heraus, als ich sie auseinander zog. So blieb ich noch ein Weilchen auf. Für eine Dechiffrierung war ich viel zu betrunken. Ich betrachtete nur das Wirrwarr der Buchstaben und die kleinen Zeichnungen dazwischen. All diese Herzchen. Und danach der schusselige Dad. Helga tat mir so Leid, dass ich es kaum noch aushielt. Zweiundvierzig Jahre alt, und ihren nächsten Geburtstag im September
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