Ein süßer Sommer
würde sie nicht mehr erleben. Ein unglückliches Leben und ein verdammt kurzes. Ich hoffte inständig, dass es Candy im Laufe des Abends gelungen war, Gerswein von ihrer Mission zu überzeugen. Es musste der Wein sein, der mir so viel Selbstlosigkeit, Nachsicht und Barmherzigkeit durch die Adern trieb. Eine ganze Flasche war eine Menge Alkohol für einen Mann, der normalerweise höchstens zwei Gläser trank – und die auch noch bei einer gehaltvollen Mahlzeit über einige Stunden verteilt. Und vermutlich waren es auch die Promille, die mir zu einem hellsichtigen Moment verhalfen und mich zum Wohnzimmerschrank trieben. Darin lag mein Fotoapparat, der für solche Aufnahmen nicht unbedingt geeignet war – aber zur Not, aus purer Anteilnahme an einem vergeudeten Frauenleben, vielleicht auch aus schierer Neugier oder zur Kontrolle, ob es tatsächlich so gewesen war, wie Candy es geschildert hatte, nahm ich, was da war. Dass man ihr nicht alles glauben durfte, wusste ich ja. Und dass sie das Büchlein so offensichtlich vor mir versteckte, gab mir zu denken. So eine Gelegenheit bekam ich vermutlich nicht noch einmal. Glücklicherweise hatte ich einige Filme auf Vorrat – gekauft für einen Abenteuerurlaub mit meinem Neffen, aus dem nichts geworden war. Äußerst akribisch machte ich mich daran, die eng beschriebenen Seiten abzulichten. Als ordentlicher Mensch begann ich natürlich vorne, füllte fünf Filme zu je vierundzwanzig Bildern, ehe mir klar wurde, dass ich besser hinten angefangen hätte. Nun fehlten mir nämlich die letzten rund dreißig Seiten. Und auf der allerletzten gab es besonders viele Herzchen. Nicht im Text, rund um die codierten Zeilen gemalt. Und unten drunter, als krönender Abschluss sozusagen, ein etwas größeres Herz, durch das eine gezackte Linie verlief. Damit war mir alles klar. Diesen Text musste Helga im Juli oder August nach ihrem Kurzaufenthalt in Köln verfasst haben. Natürlich hatte sie sich noch einmal mit ihrer großen Liebe getroffen und sein Herz gebrochen. Sie hatte dem schönen Holger erzählt, dass sie inzwischen mit Dad verheiratet und Mutter geworden war. Und erst daraufhin hatte der schöne Holger sich entschlossen, seine von und zu Geldadel zu ehelichen. Weil er nun alle Hoffnungen auf ein Leben als Gärtner begraben musste. Mit einigen Promille im Blut – und der unterschwelligen Furcht, dass Candy sich derzeit von Gerswein sein Apartment mit Rheinblick zeigen ließ – war es eine tröstliche Vorstellung, dass der Herr Ministerialrat für Helga entschieden mehr empfunden hatte als für all die anderen Blümchen. Und dass er sich nun die Augen aus dem Kopf weinte. Ich wünschte mir so sehr, dass er um Helga weinte, genauso verzweifelt und hoffnungslos, wie Candy um ihre Mutter geweint hatte. Um eins ging ich unter die Dusche, wieder nüchtern wurde ich dort nicht. Anschließend ging ich ins Bett, weil mir nicht der Sinn danach stand, nochmal die Londoner Philharmoniker oder sonst was zu hören. Die Tür ließ ich sperrangelweit offen, um Candys Rückkehr nicht zu verpassen. Ich schlief wohl rasch ein, kein Wunder mit dem, was ich intus hatte. Ein Wunder war, dass ich trotzdem kurz nach zwei erwachte und meinte, gerade wäre es in meinem Schlafzimmer hell gewesen. Jetzt war es dunkel, auch in der Diele, und vollkommen still in der ganzen Wohnung. Aber ehe ich wieder richtig einschlafen konnte, hörte ich ein Geräusch aus dem Badezimmer. Ein erstickt klingender Laut, der vom Klappen des Toilettendeckels begleitet wurde. Gleich darauf hörte ich das Würgen und die Wasserspülung. Es klang so jämmerlich und nahm gar kein Ende. Ich stand auf und torkelte in die Diele. Die Tür zum Bad war geschlossen, dahinter spuckte Candy sich das Herz aus dem Leib. Ohne anzuklopfen trat ich ein. Sie lag auf Knien vor der Toilette, hing weit vorgebeugt über dem Becken, eine Hand auf dem Drücker der Spülung, und erbrach sich, als wolle sie nie mehr aufhören. Mir wurde ebenfalls flau im Magen, vielleicht vom Wein, eher von den Geräuschen. Wenn sich jemand erbrach, musste ich immer mitwürgen, das war schon früher so gewesen. Aber es war trotzdem ein malerischer Anblick. Das Kleid mit den Streublümchen gab ihre braunen Schultern frei, der Rock lag kreisförmig ausgebreitet über ihren Beinen. Sie erinnerte mich in dieser Haltung an die kleine Meerjungfrau. Die hatte ich als kleiner Junge in einem Bilderbuch gesehen und kaum weniger heiß geliebt, als ich nun Candy liebte. Trotz ihres
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