Ein süßer Sommer
inzwischen auch aus. Man sah deutlich, dass meine Mutter länger nicht mehr hier gewesen war. Candy bemühte sich zwar um Ordnung und Sauberkeit, aber den Staubsauger schien sie bisher noch nicht entdeckt zu haben. Um mir die Zeit zu vertreiben, tat ich es, fuhr zuerst über den Teppich im Wohnzimmer, zog weiter ins Schlafzimmer. Und dort klapperte dann etwas mächtig im Rohr, als ich den Boden unter dem Bett absaugte. Im ersten Moment dachte ich an den kleinen, metallischen Gegenstand, der aus Candys Rucksack unter mein Bett gekullert war, den ich für einen Groschen gehalten hatte. Aber auch einen Groschen mit dem Staubbeutel im Müll verschwinden zu lassen, widerstrebte mir. Wie oft hatte ich früher von meiner Mutter gehört:
«Wer den Pfennig nicht ehrt.» Ich ging in die Küche, nahm den Staubbeutel aus dem Gerät. Er war noch längst nicht prall gefüllt, und was sich drin befand, war – na ja, Staub eben, Fusseln, ein paar Haare, aber nichts Ekliges. Meine Schwester hatte früher mehr als einen Staubbeutel nach winzigem Spielzeug durchforstet. Ich schob die Hand durch die Öffnung, tastete herum, bekam jedoch keine Münze zu fassen, sondern eine Patrone. Kaliber Millimeter. Und in dem Moment dachte ich an die Munitionsschachtel, deren Inhalt sich in meinem Schlafzimmer verteilt hatte. Da hatte ich beim Aufsammeln wohl eine übersehen. Vielleicht auch zwei oder drei. Ich verpasste dem Staubsauger einen frischen Beutel und schob die Düse noch einmal unter mein Bett. Aber es klapperte nichts mehr. Bis in die letzte Ecke kam ich auch nicht, dafür war mein Bett zu niedrig. Und es auseinander zu nehmen, nur um nach Candys Groschen zu suchen oder nach Patronen, die in der Agentur niemand vermisste, war mir zu mühsam. Meine Mutter nahm zweimal im Jahr die Matratze, den Matratzenschoner und den Lattenrost heraus, um darunter gründlich sauber zu machen. Sie schob auch mindestens einmal im Monat die beiden Couchs im Wohnzimmer von ihren Plätzen, wie Candy es in der ersten Nacht bei mir getan hatte. Da hatte ich auch an Kleingeld gedacht – woran auch sonst, bei einem neunzehnjährigen Mädchen? Ich stellte den Staubsauer wieder in den Einbauschrank, fragte mich, wie weit sie wohl schon mit Gerswein war, und sah im Geist die Szene vor mir, die sie so bunt ausgemalt hatte. Sie in einem Café, er bei der Tür, suchende Blicke und so weiter. Sorgen machte ich mir nicht um sie – um Holger Gerswein noch weniger.
9. Kapitel
Gegen vier Uhr klingelte es an der Tür, Candy kam nicht etwa schon zurück, sie hätte ja auch nicht klingeln müssen. Meine Schwester machte mir unangemeldet einen Besuch. Mutter hatte ausgeplaudert, dass ich zurzeit einen Gast hätte. Entsprechend groß war Inas Enttäuschung, mich allein anzutreffen. Ich musste ausführlich erzählen, wann und wo Candy mir begegnet, warum sie in Köln war und welche Rolle ich dabei spielte. Rührend, fand Ina, das bezog sich nicht auf meine, sondern nur auf Candys Bemühungen. Natürlich wollte Ina zumindest einen Teil ihrer Neugier befriedigen. Candys Reisetasche war schon lange nicht mehr abgeschlossen. Ihr Vertrauen in mich schien wirklich grenzenlos. Das Fotoalbum lag ganz unten, eingewickelt in den schwarzen Schlauch. Das hatte ich schon gesehen, als ich nach dem verschlüsselten Tagebuch suchte. Dann machten wir es uns bei einer Tasse Kaffee auf der Couch gemütlich und lernten unter Zuhilfenahme einer Lupe – damit man die Gesichter besser betrachten konnte – Candys gesamte Familie kennen. Die Großeltern, Tante Gertrud und Margarete, Onkel Paul und Ed oder Ted, mit dem Margarete verheiratet war, Margaretes Söhne als Kinder und Halbwüchsige, dazwischen immer wieder Helga in allen Lebenslagen. Das Album dokumentierte eine sehr intensive Form von Zusammengehörigkeit über mehr als zwanzig Jahre. Da die meisten Fotos untertitelt und alle mit einer Jahreszahl versehen waren, ließen sich die abgelichteten Personen gut zusammenfügen und Helgas Entwicklung verfolgen. Es begann mit Helga als Säugling in diversen Armen, darauf folgten unterschiedliche Anlässe, Einschulung, Sportfeste, Konfirmation, Abiturfeier, Beerdigung des Vaters im November , die beiden Aufnahmen, die sie auf der Wiese in Philadelphia einmal allein und einmal mit Candy im Arm zeigten. Dazwischen das Foto, das bei rauer See aufgenommen worden sein musste. Darauf stemmte Helga sich lachend einem Sturm entgegen, sie trug Wetterzeug mit Kapuze, hinter ihr unscharf ein Schiffsaufbau,
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