Ein süßer Sommer
A über Z bis E, weil ein Monat wie zum Beispiel der August mehr Tage hat als Buchstaben zur Verfügung stehen, sodass am . für jedes A nochmal ein E eingesetzt war. Candy hatte ja erklärt, man könne den Code nur knacken, wenn man das Datum kenne. Ein Datum war nirgendwo zu sehen. Aber mit meinen durchnummerierten Buchstabenreihen ging es trotzdem, es war allerdings sehr zeitaufwändig. Beim ersten Text begann das Alphabet mit H. Olbal bzm tlpu hieß demnach:
«Heute ist mein.» Letzter Tag daheim kam dahinter. Es handelte sich um den Abschied vom Elternhaus, die tränenreichen letzten Stunden in vertrauter Umgebung. Furcht vor dem Schritt in ein eigenständiges Leben fern der Geborgenheit. Sorge um die Eltern, die beide schon sehr gebrechlich waren. G war aus Heidelberg angereist, M sogar eigens aus den Staaten eingeflogen, um das Nesthäkchen auf beide Wangen zu küssen und zu ermuntern. Um das alles in eine verständliche Sprache zu bringen, brauchte ich eine knappe Stunde. Sehr konzentriert war ich nicht dabei, horchte ständig in die Diele, fragte mich, wo Candy blieb. So hatte das keinen Sinn. Ich hatte auch keine Lust mehr, verteilte den Fotostapel gleichmäßig unter der Matratze, legte den Block und meine Schablonen dazu, der Kleiderschrank war mir nicht sicher genug. Ich war unruhig und hungrig, immerhin war es schon halb zehn vorbei. Im Kühlschrank fand sich nichts, was fürs Abendessen bestimmt sein konnte. Ich genehmigte mir ein Glas Cola, obwohl ich das Zeug eigentlich gar nicht mochte. Zu süß. Genau wie sie. Während ich trank, gab ich mir die größte Mühe, sie mir nicht unentwegt mit Gerswein vorzustellen – und dann auch noch in Situationen, die sie nur noch mit mir erleben durfte. Damit hatte ich ziemlich zu kämpfen. Der Volksmund sagt nicht umsonst: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Sie kam erst nach zehn, außer Puste und nervös. Ich hatte in der Zwischenzeit eine Dose Ravioli aus den unerschöpflichen Vorräten aufgewärmt. Die Wohnungstür war noch nicht ganz geöffnet, da rief sie bereits:
«Hallo, Mike, tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.» Ein Seufzer der Erleichterung, als sie mich in der Küche entdeckte. Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss und drückte die Tür zu.
«Gut, dass du da bist. Ich hatte solche Angst, du wärst noch nicht daheim.» Die obligatorische Begrüßung auf Zehenspitzen, im rechten Arm eine Tüte mit Toast, Äpfeln, einem Salat und etwas Frischfleisch, das so frisch gar nicht mehr war, den linken Arm um meinen Nacken geschlungen, drei Atemzüge lang ein Kuss, dann:
«Das ist lieb, dass du schon angefangen hast zu kochen. Die Koteletts können wir bestimmt nicht mehr essen. Ich musste sie die ganze Zeit mit mir herumtragen, und es war so warm.» Eine winzige Atempause. Sie legte die Tüte an die Seite, machte sich ohne Umschweife daran, den Tisch zu decken, und plapperte weiter.
«Lach mich bitte nicht aus, Mike. Ich habe zuerst auch gedacht, ich bilde mir das ein. Aber dann – das war kein Zufall. Ich merke doch, wenn mir stundenlang immer der gleiche Mann folgt. Es war wirklich jemand hinter mir her, Mike.» Ihrer Meinung nach hatte dieser Jemand bereits vor dem Haus gelauert, als sie kurz nach drei ins Freie getreten war, um ein Toastbrot, Äpfel, zwei Koteletts und einen Salat fürs Abendessen zu besorgen. Dass der Jemand es speziell auf sie abgesehen hatte, glaubte sie zwar nicht. Ein Sittlichkeitsverbrecher, vermutete sie, dem wohl jede junge Frau recht gewesen wäre.
«Ursprünglich wollte ich gar nicht in die Stadt fahren. Aber was hätte ich tun sollen? Als ich aus dem Supermarkt kam, stand er dort vor der Tür. Und in solchen Fällen muss man sich unter Menschen aufhalten, also bin ich zur Straßenbahn gegangen. Er natürlich hinter mir her. Von einem Kaufhaus ins andere ist er mir gefolgt. Immer wieder habe ich versucht, ihn abzuschütteln. Aber ich wurde ihn nicht los, Mike.»
«Warum hast du denn nicht angerufen, damit ich dich abhole?»
«Das habe ich versucht», antwortete sie,«aber du warst noch nicht hier. Ich bin dann weiter herumgelaufen. Zum Glück sind in der Stadt ja auch abends viele Menschen unterwegs. Irgendwann habe ich ihn nicht mehr gesehen. Weißt du, was er gemacht hat? Er ist vorausgefahren, Mike. Als ich hier ankam, saß er unten im Auto. Er war so schnell hinter mir, das glaubst du gar nicht. Er ist sogar mit mir in den Aufzug gestiegen. Ich hatte furchtbare Angst,
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