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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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nicht hinsahen) und vergiftet von ihrer Hilflosigkeit da. Natürlich würde sie Rose nicht verklagen oder auch nur einen Brief schreiben: Warum diese
canaille
würdigen, indem man sie auch nur bemerkte? Wilhelm hatte ihr einen Briefentwurf mitgebracht, in dem stand, dass die von Arnes eine alte deutsche Familie seien, in der es nie Verbindungen mit den Nazis gegeben habe. Sie bat ihn, den Brief zu vergessen, ihn nicht abzuschicken. Sie irrte sich: Sie hätte ihn abschicken sollen, um ihr Herz zu erleichtern, wenn auch nur das. Und sie irrte sich auch, was Rose Trimble anging. Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit der Geschichte gegenüber – ja, das entsprach ihrer Generation, aber was sie inspirierte, war der unmittelbare Hass auf die Lennox, das Bedürfnis, »es ihnen heimzuzahlen«. Sie hatte vergessen, wie sie überhaupt in ihr Haus gekommen war und dass sie einmal behauptet hatte, Andrew habe sie geschwängert. Nein, es war dieses Haus, dass es dort so angenehm war, dass man dort alles so selbstverständlich fand und sich umeinander kümmerte. Sylvia, dieses zimperliche kleine Miststück; Frances, diese beschissene alte Bienenkönigin oder eher Wespe; Julia, die alle herumkommandierte. Und die Männer, diese selbstgefälligen Mistkerle. Ihr Artikel wurde aus den Quellen der Galle und der Bosheit gespeist, die für immer in Rose sprudelten und kochten und die nur vorübergehend zur Ruhe kamen: wenn sie Wörter niederschreiben konnte, die direkt auf die Herzen ihrer Opfer gerichtet waren. Beim Schreiben stellte sie sich vor, wie sie beim Lesen keuchten und sich wanden. Sie stellte sich vor, wie sie vor Schmerz aufschrien. Deswegen starb Julia vor der Zeit. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Bösartiges sie plötzlich angegriffen hatte. An ihre Kissen gelehnt, saß sie in einem Zimmer, in dem Licht durch das Fenster fiel, es kroch vom Boden zum Bett und zur Wand und um die Wände herum zum Fenster zurück, ein so schwacher Widerpart gegen die Dunkelheit, die von unsichtbaren feindseligen Mächten herabgesenkt wurde und sie umschloss. Sie war ihr ganzes Leben lang vor ihnen weggelaufen, das spürte sie, und jetzt wurde sie von einem Ungeheuer der Dummheit und Hässlichkeit und Vulgarität verschluckt. Alles war verzerrt und verdorben. Also blieb sie im Bett und kehrte in Gedanken zurück in ihre Mädchenzeit, in der alles schön gewesen war, so
schön, schön, schön
, aber in ihr Paradies war dieser alte Krieg gedrungen, und die Welt war voller Uniformen gewesen. Nachts war die winzige Lampe, die Sylvia gehörte und die man aus dem Wohnzimmer in ihr Zimmer gebracht hatte, das einzige Licht in der Dunkelheit, und dann standen ihre Brüder und Philip an ihrem Bett, gut aussehende, tapfere junge Männer in schicken Uniformen ohne einen Makel oder Spritzer oder Fleck. Sie schrie, dass sie bei ihr bleiben sollten und nicht weggehen und sie verlassen.
    Leise sprach sie auf Deutsch und auf Englisch und in ihrem
Comme-il-faut
-Französisch, und Colin saß bei ihr, manchmal stundenlang, und hielt das Bündel aus dünnen Knochen, das ihre Hand war. Er war traurig und voller Reue und dachte daran, dass er nie wirklich etwas über Ernst und Friedrich und Max gehört hatte; er hatte kaum etwas über seinen Großvater gehört. Hinter ihm lag eine Kluft, ein Abgrund, in den die Normalität gefallen war, das gewöhnliche Familienleben war zusammengefallen, und hier saß er, ein Enkel, aber er hatte seinen Großvater nicht gekannt, und Julias deutsche Familie auch nicht. Aber es war auch seine Familie … Er beugte sich ganz dicht zu Julia hinunter und sagte: »Julia, bitte erzähl mir von deinen Brüdern, von deinem Vater und deiner Mutter, hattest du Großeltern? Erzähl mir von ihnen.« Sie trat heraus aus ihrem Traum und sagte: »Wer? Was hast du gesagt? Sie sind tot. Sie wurden umgebracht. Es gibt keine Familie mehr. Es gibt kein Haus mehr. Es ist nichts mehr da. Es ist schrecklich, schrecklich …«
    Sie mochte es nicht, wenn man sie aus ihren Erinnerungen oder Träumen holte. Sie mochte die Gegenwart nicht, die nur aus Medikamenten, Tabletten und Krankenschwestern bestand, und sie hasste den alten, gelblichen Körper, der bloßlag, wenn sie gewaschen wurde. Vor allem hatte sie ständig Durchfall, was bedeutete, dass es in ihrem Zimmer roch, ganz gleich, wie oft ihr Bett frisch bezogen oder ihr Nachthemd gewechselt wurde oder wie gründlich man sie wusch. Sie verlangte, dass Eau de Cologne versprüht wurde, und rieb sich

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