Ein süßer Traum (German Edition)
schlecht, weinte. Philip kümmerte sich um sie – er war immer ein guter Mann. Er hielt Julia in den Armen und wiegte sie: »Ist ja gut, mein Liebes, ist ja gut.« Jetzt, wo er eine der neuen, raffinierten Armprothesen hatte, konnte er sie in die Arme nehmen, konnte fast alles. Nachts nahm er den Arm ab und hängte ihn an seinen Platz. Jetzt brachte er nur noch eine halbe Umarmung zustande, also hielt Julia ihn.
Die Lennox-Eltern wurden nicht zur Hochzeit ihres Sohnes Jolyon mit Frances eingeladen. Die Nachricht wurde ihnen in einem Telegramm mitgeteilt, als er gerade wieder nach Kanada aufbrach. Zuerst konnte Julia nicht glauben, dass er so mit ihnen umging. Philip hielt sie fest und sagte: »Das verstehst du nicht, Julia.« »Nein, allerdings nicht, ich verstehe gar nichts.« Mit seiner vor Ironie kratzigen Stimme sagte er: »Wir sind der Klassenfeind, siehst du das nicht ein? Nein, nicht weinen, Julia, er wird bestimmt noch erwachsen.« Aber er starrte über ihre Schulter hinweg, und in seinem Gesicht stand die Erschütterung, die sie empfand – und immer öfter und jeden Tag stärker empfand. Eine weinende, allgemeine, nieselnde Bestürzung, und sie wurde sie nicht mehr los.
Sie wussten, dass Johnny sich in Kanada »gut machte«. Was aber hieß »gut machen« in diesem Zusammenhang? Bald nachdem er dorthin zurückgekehrt war, kam ein Brief mit einem Foto von ihm und Frances auf den Stufen vor dem Standesamt. Sie trugen beide Uniform, ihre war so eng wie ein Korsett, und sie war eine strahlende Blondine, die gerade kicherte. »Albernes Mädchen«, befand Julia und legte Brief und Foto weg. Der Brief trug den Stempel der Zensur, als wäre er Sperrgebiet – und so empfand sie es auch. Dann schrieb Johnny eine Notiz, die besagte: »Vielleicht schaut ihr mal nach, wie es Frances geht. Sie ist schwanger.«
Julia ging nicht hin. Dann kam ein Luftpostbrief, in dem stand, ein Baby sei zur Welt gekommen und es sei doch das Mindeste, dass Julia sie einmal besuche. »Er heißt Andrew«, stand in einem Postskriptum, das ihm offenbar später eingefallen war; und Julia erinnerte sich an die Anzeigen zu Jolyons Geburt, die sie in großen, weißen, dicken Umschlägen verschickt hatten, auf einer Karte wie aus dünnem Porzellan, auf der in eleganter schwarzer Schrift stand:
Jolyon Meredith Wilhelm Lennox
. Kein Empfänger hatte bezweifeln können, dass die Menschheit bedeutenden neuen Zuwachs bekommen hatte.
Sie fand, dass sie ihre Schwiegertochter besuchen sollte, schob es wieder auf, und als sie schließlich zu der Adresse kam, die Johnny angegeben hatte, war Frances nicht mehr da. Es war eine trostlose Straße, in der ein Haus wegen einer Bombe in Trümmern versank. Julia war froh, dass sie dort kein Haus betreten musste, doch dann wurde sie zu einem anderen geschickt, das noch schlimmer aussah. Es war in Notting Hill; eine grimmige, schlampige Frau ließ sie ein, und sie hörte, dass sie an die Tür gegenüber klopfen solle, an die mit dem gesprungenen Oberlicht.
Sie klopfte, und eine gereizte Stimme rief: »Moment, o.k., herein.« Das Zimmer war groß und schlecht beleuchtet, und die Fenster waren schmutzig. Ausgeblichene grüne Gardinen aus Baumwollsatin und abgewetzte Teppiche. Im grünlichen Halbdunkel saß eine hochgewachsene junge Frau mit gespreizten Beinen und ohne Strümpfe, und ihr Baby lag quer an ihrer Brust. Über dem Babykopf hielt sie ein Buch in der Hand; ein rhythmisch arbeitender kleiner Kopf, und die ausgestreckten Hände öffneten und schlossen sich auf nacktem Fleisch. Aus der großen entblößten Brust trat Milch.
Julia dachte als Erstes, sie wäre in das falsche Haus geraten, denn diese junge Frau konnte nicht die auf dem Foto sein. Während sie dastand und sich zu dem Eingeständnis zwang, dass sie wirklich Frances sah, Jolyon Meredith Wilhelms Ehefrau, sagte die junge Frau: »Setzen Sie sich doch.« Für Frances war es der Gipfel: dass sie das sagen musste – dass sie Julia auch nur zur Kenntnis nehmen musste. Sie runzelte die Stirn und nahm ihre Brust aus einer unbequemen Lage, der Babymund verlor die Brustwarze, und eine milchige Flüssigkeit lief über die Brust zu einer schlaffen Taille hinunter. Frances schob die Brustwarze vorsichtig wieder zurück, der Säugling stieß einen erstickten Schrei aus und fing wieder an zu saugen. Das kleine Kopfschütteln, mit dem er es tat, hatte Julia vor langer Zeit an Dackelwelpen beobachtet, die nebeneinander an den Zitzen einer säugenden Hündin
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