Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
setzte sich rechts neben Frances, ohne Colin anzusehen. Sophie, die unter jedem Misston litt, stand auf, ging zu Colin, schlang den Arm um ihn und küsste ihn auf die Wange. Zunächst erlaubte er sich kein Lächeln, aber dann konnte er nicht anders und lächelte sie schwach und liebevoll an, und alle anderen auch. Plötzlich lachten alle. Rose … James … Jill – die drei hatten sich offenbar im Souterrain häuslich niedergelassen. Daniel saß neben Geoffrey: der Schulsprecher und sein Stellvertreter. Lucy saß neben Daniel, sie war vom Dartington Hall gekommen, um das Wochenende hier mit ihm zu verbringen. Zwölf Plätze. Alle warteten, aßen heißhungrig Brot, nahmen schnuppernd die Gerüche auf, die vom Herd aufstiegen. Schließlich kam Andrew mit Sylvia im Arm herein. Wie immer war sie in das Babytuch gewickelt, darunter trug sie eine saubere Jeans, die locker saß, und einen Pullover von Andrew. Ihr blasses, feines Haar war gebürstet, wodurch sie noch kindlicher aussah. Sie lächelte, doch ihre Lippen zitterten.
    Colin, der nicht wollte, dass sie bei ihnen wohnte, stand lächelnd auf und machte eine kleine Verbeugung vor ihr. »Willkommen, Sylvia«, sagte er, und als sie im Chor »Hallo, Sylvia« sagten, traten ihr die Tränen in die Augen.
    Sie setzte sich neben Frances, und Andrew ließ sich neben ihr nieder. Die Mahlzeit konnte beginnen. Im Nu standen Schüsseln verteilt auf dem Tisch. Colin erhob sich, um Wein einzuschenken, und kam Geoffrey zuvor, während Frances das Essen auf die Teller verteilte. Ein kritischer Moment: Sie war bei Andrew angekommen, und Sylvia würde die Nächste sein. Andrew sagte: »Warte«, und ein kleines Spiel begann. Zuerst legte er auf seinen Teller eine einzelne Karotte, dann auf Sylvias eine. Er tat das feierlich und bedächtig mit gerunzelter Stirn, und schon musste Sylvia lachen, obwohl ihre Lippen immer noch nervös und schmerzlich zuckten. Einen kleinen Löffel Kohl auf seinen Teller und einen für sie, ohne auf die Hand zu achten, die sich instinktiv gehoben hatte, um ihn daran zu hindern. Für ihn nur eine Kostprobe vom Hackfleisch, ebenso wie für sie. Und dann in einer großspurigen Geste eine ansehnliche Portion Kartoffelbrei für beide. Alle lachten. Sylvia saß da und betrachtete ihren Teller, während Andrew mit einem entschlossenen Bringen-wir’s-hinter-uns-Blick einen Löffel Kartoffelbrei aß. Er wartete darauf, dass sie es ihm gleichtat. Sie schob ein wenig Brei in den Mund – und schluckte.
    Frances zwang sich dazu, den beiden nicht weiter zuzusehen, während Andrew und Sylvia mit sich kämpften. Sie hob ihr Glas Rioja – sieben Shilling die Flasche, denn dieser schöne Wein war noch nicht »entdeckt« worden – und trank auf das Wohl der progressiven Erziehung, ein alter Witz, den sie alle mochten.
    »Wo ist Julia?«, kam Sylvias Stimmchen.
    Sorgenvolles Schweigen. Dann sagte Andrew: »Sie kommt nicht zum Essen zu uns.«
    »Warum denn nicht? Warum nicht? Es ist so schön bei euch.«
    Das war der wirkliche Durchbruch, wie Andrew es später Julia beschrieb: »Wir haben gewonnen, Julia, ja, haben wir wirklich.« Frances freute sich: Sie hatte sogar Tränen in den Augen. Andrew nahm Sylvia in den Arm, lächelte seiner Mutter zu und sagte: »Ja, das stimmt. Aber Julia ist lieber da oben allein.«
    Weil er unwissentlich ein Bild dessen erschaffen hatte, was wohl Einsamkeit war, packte es ihn, und er sprang auf und sagte: »Ich gehe rauf und frage sie noch einmal.« Das sollte ihn zum Teil von der Belastung und der Herausforderung befreien, die sein noch kaum berührter Teller für ihn darstellte. Als er hinaus- und die Treppe hinaufging, legte Sylvia ihren Löffel hin. Gleich darauf kam Andrew zurück, setzte sich und sagte: »Sie meint, sie schaut vielleicht später vorbei.«
    Einen Augenblick lang drohte Panik auszubrechen. Während Andrew sich so um seine Großmutter bemühte, sahen die anderen in Julia eher eine Art alte Hexe, über die man lachen konnte. Die Truppe vom St. Joseph’s konnte nicht wissen, wie Julia eine Woche lang, zwei Wochen lang mit Sylvias Krankheit gekämpft, bei ihr gesessen, sie gebadet hatte, wie sie dafür gesorgt hatte, dass sie einen Bissen von dem nahm und einen Schluck von jenem. Julia hatte kaum geschlafen. Und dies war ihre Belohnung: Sylvia, die ihren Löffel wieder nahm und zusah, wie Andrew den seinen hob, als hätte sie vergessen, wie man das macht.
    Der kritische Augenblick ging vorüber, die »Kinder« stillten

Weitere Kostenlose Bücher