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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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wie zuvor Dereks: Offenbar galt Ladendiebstahl als eine der wichtigsten Waffen. Dann ging er hinunter in sein Zimmer und zu der Schublade, in der sein Geld lag. Es sah weniger aus, und er zählte es: Tatsächlich war es weniger als die Hälfte. Er stand da und zählte noch mal, und dann hörte er Rose hinter sich.
    »Die Hälfte von meinem Geld ist weg«, sagte er heftig.
    »Ich habe mir die Hälfte genommen. Es steht mir doch zu, oder? Du hast die ganzen Kleider umsonst bekommen. Wenn du dir all die Sachen gekauft hättest, hättest du für das Geld nicht so etwas Schönes bekommen. Also hast du doch etwas gewonnen? Du hast neue Kleider und die Hälfte des Geldes.«
    Lange sah er sie misstrauisch an, sein Gesicht lag in Falten, war finster und wütend. Das Geld war für ihn mehr als ein Geschenk von Frances, die wie eine Mutter für ihn war. Es war, als hieße man ihn in dieser Familie willkommen, als gehörte er dazu.
    Rose war kalt und voller Verachtung. »Du verstehst gar nichts«, sagte sie. »Es steht mir zu, kapierst du das nicht?«
    Er zuckte hilflos mit den Schultern, während sie dastand, ihn anstarrte, bis er wegschaute, und schließlich ging sie die Treppe hinauf.
    Verzweifelt suchte er nach einem Platz, um das Geld zu verstecken in diesem Zimmer, in dem es keinen Platz gab, um etwas zu verstecken. Zu Hause konnte man verbotene Dinge in das Stroh auf dem Dach schieben oder in der Erde des Fußbodens oder im Busch vergraben. Im Haus seiner Eltern gab es Ziegel, die man lösen und wieder einsetzen konnte. Am Ende legte er das Geld in die Schublade zurück. Er setzte sich auf die Bettkante und weinte, aus Heimweh, aus Scham, weil Frances böse auf ihn war und weil er sich bei diesen Revolutionären da oben nicht zu Hause fühlte und sie ihn trotzdem behandelten wie einen der ihren. Am Ende schlief er ein bisschen und ging dann hinauf in die Küche und stellte fest, dass die beiden Männer gegangen waren und alle abwuschen. Mit einem Mal empfand er Erleichterung und war mit Vergnügen dabei, er gehörte dazu. Offenbar sollte es Abendessen geben, obwohl alle scherzten, dass es unmöglich sein würde, etwas zu essen. Ziemlich spät, gegen zehn, tauchten die Truthahnreste mit allen möglichen Füllungen und Soßen wieder auf, und es gab ein großes Blech mit Bratkartoffeln. Alle saßen herum, tranken und waren müde und zufrieden mit sich selbst und mit Weihnachten, als es an der Haustür klopfte. Frances spähte durch das Fenster und sah auf dem Gehweg eine Frau, die nicht wusste, ob sie erneut klopfen oder weggehen sollte. Colin stellte sich zu seiner Mutter. Beide fürchteten, dass es Phyllida war.
    »Ich sehe nach«, sagte Colin und ging hinaus, und Frances sah, dass er mit der Fremden sprach, die ein wenig schwankte. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu stützen, nahm sie dann am Arm und führte sie herein.
    Sie war durch das Dunkel oder durch schlecht beleuchtete Straßen geirrt und stand jetzt zwinkernd im hellen Licht des Flurs. Frances erschien. Die Fremde sagte zu ihr: »Bist du mein Herzensschatz?« Sie war offenbar mittleren Alters, aber genau konnte man das nicht sagen, denn ihr Gesicht war schmutzig, so wie ihre recht schönen Hände, mit denen sie sich an Colin klammerte. Sie sah aus wie jemand, der gerade vor einem Feuer oder einer Katastrophe gerettet worden war. Colins Gesicht war schmerzverzerrt, der gutherzige Junge war den Tränen nahe. »Mutter«, sagte er flehentlich, und Frances trat auf die andere Seite. Gemeinsam führten sie und Colin die Obdachlose die Treppe hinauf ins Wohnzimmer, das jetzt leer war und aufgeräumt.
    »So ein schönes Zimmer«, sagte die Frau und wäre beinahe gestürzt, und Colin und Frances legten sie auf das große Sofa. Sie hob ihre schmutzige Hand und schlug den Takt, während sie sang … was war das? Ja, ein altes Music-Hall-Lied:
»I dillied and I dallied, I dallied and I dillied and I … yes, I did dilly, darlings, I did, and now I’m far from home.«
Sie hatte eine helle, klare Stimme, präzise und süß. Die Kleider, die sie trug, waren nicht schäbig, und sie wirkte nicht arm, aber sie war ganz sicher krank. Ihr Atem roch nicht nach Alkohol. Jetzt stimmte sie ein anderes Lied an:
»Sally … Sally …«
Die süße Stimme stieg rein bis zu der hohen Note an und hielt sie. »Ja, mein Schatz, ja«, sagte sie zu Colin, »du hast ein gutes Herz, das kann ich sehen.« Große blaue Augen, unschuldige Augen, geradezu Babyaugen waren auf Colin

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