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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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gerichtet. Frances beachtete sie nicht. »Ein gutes, aber sei vorsichtig. Ein gutes Herz macht einem Schwierigkeiten, und wer weiß das besser als Marlene?«
    »Wie heißen Sie, Marlene?«, fragte Frances und hielt eine schmuddelige Hand, die zitterte und zu kalt war und der die Lebenskraft fehlte.
    »Mein Name ist verloren, Liebes. Er ist verloren und vergangen, aber Marlene geht auch.« Und jetzt sprach sie Deutsch, Koseworte auf Deutsch. Dann sang sie wieder Liedfragmente, Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg, immer wieder
Lili Marlen
und andere Lieder auf Deutsch.
»Ich liebe dich«
, sagte sie zu ihnen. »Ja, das stimmt.«
    Frances sagte: »Ich hole Julia.« Sie ging nach oben und traf Julia beim Abendessen mit Wilhelm an; sie saßen sich gegenüber an einem mit Silber und funkelnden Gläsern gedeckten Tisch. Sie erklärte, was geschehen war, und Julia sagte: »Wie ich sehe, ist dieses Haus zu einer weiteren Heimatlosen gekommen. Gastfreundschaft hat Grenzen, Frances. Wer ist die Dame?« Was witzig klingen sollte, aber eine Beschwerde war.
    »Keine Dame«, sagte Frances. »Aber heimatlos auf jeden Fall.«
    Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, hatte Andrew ein Glas Wasser geholt, das er der Unbekannten an die Lippen hielt.
    »Ich bin nicht sehr für Wasser«, sagte sie und lehnte sich zurück und sang:
»Another little drink won’t do us any harm.«
Und dann wieder etwas auf Deutsch. Julia stand da und hörte zu. Sie gab Wilhelm ein Zeichen, und die beiden setzten sich nebeneinander in ihre Sessel und waren bereit, ein Urteil abzugeben.
    Wilhelm sagte: »Darf ich Sie Marlene nennen?«
    »Nennen Sie mich, wie Sie wollen, mein Lieber, nennen Sie mich, wie Sie mögen. Mir tut nichts mehr weh. Früher einmal, aber das ist lange her.« Und jetzt weinte sie ein wenig und schluchzte wie ein Kind. »Es hat wehgetan«, teilte sie ihnen mit. »Es hat wehgetan, als sie das gemacht haben. Aber die Deutschen waren Gentlemen. Das waren nette Jungs.«
    »Marlene, kommen Sie aus dem Krankenhaus?«, fragte Julia.
    »Ja, mein Schatz. Ich bin aus dem Krankenhaus entflohen, könnte man sagen, aber sie nehmen die arme Molly wieder auf, sie sind gut zur armen Molly.« Und sie sang:
»There’s none like pretty Sally. She’s the darling of my heart …«
Und dann hoch und süß:
»Sally, Sally …«
    Julia stand auf, gab Wilhelm zu verstehen, dass er bleiben solle, wo er war, und winkte Frances hinaus auf den Treppenabsatz. Colin kam auch dazu. Er sagte: »Ich finde, wir sollten sie aufnehmen. Sie ist schließlich krank!«
    »Krank und verrückt«, sagte Julia. Dann dämpfte sie ihre Strenge ein wenig und sagte zu Colin: »Weißt du, was sie ist – was sie war?«
    »Keine Ahnung«, sagte Colin.
    »Sie hat während des letzten Krieges die Deutschen in Paris unterhalten. Sie ist eine Hure.«
    Colin stöhnte: »Das ist aber nicht ihre Schuld.«
    Der Geist der sechziger Jahre, leidenschaftliche Blicke, eine zitternde Stimme und ausgestreckte, flehende Hände wandten sich gegen die gesamte menschliche Vergangenheit, die für alle Ungerechtigkeit verantwortlich war und von Julia verkörpert wurde, denn sie sagte: »Ach, du dummer Kerl, ihre Schuld, unsere Schuld, deren Schuld, was heißt das schon? Wer soll sich um sie kümmern?«
    Frances fragte: »Wieso arbeitet denn ein englisches Mädchen in Paris unter den Deutschen als Hure?«
    Und plötzlich sagte Julia in einem Ton, den niemand je von ihr gehört hatte: »Huren haben keine Probleme mit ihrem Pass, sie sind immer willkommen.«
    Frances sah Colin an und Colin Frances: Was hatte das alles zu bedeuten? Aber bei alten Leuten gibt es oft solche Momente, eine Veränderung in der Stimme, ein schmerzlich verzogenes Gesicht, eine schroffe Bemerkung – so wie jetzt –, und das ist alles, was von einer Verletzung oder Enttäuschung übrig ist … Und dann ist Schluss, es ist vorbei, es ist weg. Niemand wird es je erfahren.
    »Ich rufe jetzt in Friern Barnet an«, sagte Julia.
    »Oh nein, nein, nein«, sagte Colin.
    Julia ging in das Zimmer zurück, unterbrach
Sally
, beugte sich über sie und fragte: »Molly? Sind Sie Molly? Sagen Sie mir, kommen Sie aus Friern Barnet?«
    »Ja, ich bin zu Weihnachten weggelaufen. Ich bin weggelaufen, um meine Freunde zu besuchen, aber wo sind sie denn, ich weiß es nicht. Aber Friern ist nett, und Barnet ist noch netter, sie nehmen die arme Molly Marlene wieder auf.«
    »Geh und ruf an«, sagte Julia zu Andrew, der umgehend das Zimmer verließ.
    »Das werde

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