Ein süßer Traum (German Edition)
allen Fronten. Aber in Wirklichkeit waren die Ereignisse von 68 ernüchternd für ihn. Überall gab es neue Helden, die auf neue Bibeln schworen. Johnny musste eine Menge lesen.
Er war nicht der Einzige aus der alten Garde, der sich plötzlich wieder an den Seiten des
Kommunistischen Manifest
s erfrischte. »
Das
nenne ich revolutionäres Schreiben«, murmelte er dann.
In Frankreich hatte jeder Held einige Mädchen, die ihm zu Füßen lagen, und alle schliefen miteinander, wegen der neuen Planke in der revolutionären Plattform – der sexuellen Freiheit. Johnny jedoch hatte keine Mädchen, die ihm den Hof machten. Man sah in ihm nicht nur den Engländer, sondern auch den älteren Mann. 1968 , das für Hunderttausende politische Sektierer, die an den Straßenkämpfen teilgenommen hatten, an den Auseinandersetzungen mit der Polizei, dem Steinewerfen, den Kleinkriegen, dem Barrikadenbauen, an der sexuellen Freizügigkeit, immer der glänzende Gipfel ihrer jugendlichen Errungenschaften bleiben würde, war kein Jahr, an das Johnny gerne dachte.
Als er einsah, dass Stella nicht die Absicht hatte, zu ihm zurückzukommen, war er wieder in die Wohnung gezogen, aus der Phyllida ausgezogen war, und es wurde eine Art Kommune daraus, eine Heimstatt für Revolutionäre von überall her, einige, die sich vor dem Vietnamkrieg drückten, viele aus Südamerika, und meistens wohnten afrikanische Politiker bei ihm.
Als Johnny kam, wirkte die Küche auf Anhieb übervoll, und die drei, die am Tisch saßen und zu Abend aßen, fanden sich selbst langweilig und farblos, denn die Neuankömmlinge waren in Hochstimmung und energiegeladen, weil sie gerade aus einer Versammlung kamen. Genosse Mo und Johnny lachten über einen Witz, woraufhin Genosse Mo Frances umarmte und sagte: »Laut Danny Cohn-Bendit ist der Sozialismus erst dann da, wenn der letzte Kapitalist mit den Gedärmen des letzten Bürokraten erhängt worden ist.«
Franklin – sie hatte den fülligen jungen Mann mit dem guten Anzug nicht sofort erkannt – sagte zu dem Schwarzen, der bei ihm war: »Das ist Frances, ich habe dir von ihr erzählt, sie war wie eine Mutter für mich. Das ist Genosse Matthew, Frances. Er ist unser politischer Führer.«
»Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen«, sagte Genosse Matthew ernst und förmlich, im Stil der Genossen von einst, als leninartige Strenge in Mode gewesen war. (Und das sollte sehr bald wieder so sein.) Man konnte ohne Weiteres sehen, dass er sich unwohl fühlte und nicht gerne hier war. Er stand da, wirkte ernst und sah auf die Uhr, während die »Kinder«, die jetzt erwachsen waren, Franklin begrüßten. Sylvia war zögernd aufgestanden und breitete die Arme aus, um ihn zu begrüßen, und er schloss die Augen in der Umarmung, und als er sie aufschlug, waren sie voller Tränen.
»Setzt euch«, sagte Andrew und zog Stühle heran, die sonst an der Wand gestapelt waren. Genosse Matthew nahm Platz und runzelte die Stirn: Wieder sah er auf die Uhr.
Nachdem Genosse Mo zuletzt hier gewesen war, hatte er China bereist und die Kulturrevolution gesegnet (wie auch den Großen Sprung nach vorn und die Hundert-Blumen-Bewegung). Jetzt hielt er an Universitäten überall auf der Welt Vorlesungen über deren Nutzen für China und die gesamte Menschheit. Er setzte sich und griff nach dem Brot.
Franklin sagte zu Frances: »Genosse Matthew ist mein Cousin.«
»Wir gehören zum selben Stamm«, sagte der ältere Mann, um ihn zu korrigieren.
»Ach, du musst doch verstehen, Stamm klingt rückständig.« Franklin hatte offenbar ein wenig Angst, sich gegen den politischen Führer zu stellen.
»Mir ist bewusst, dass Cousin der englische Ausdruck ist.«
Jetzt saßen alle außer Johnny, der zu seinen Söhnen sagte: »Habt ihr gehört, Danny Cohn-Bendit hat gerade gesagt, dass …« Dadurch geriet Genosse Mo in Gefahr, wieder einen seiner Ho-ho-ho-Anfälle zu bekommen, und Frances sagte: »Das haben wir eben schon gehört. Armer Junge, er hatte eine schreckliche Kindheit. Deutscher Vater … französische Mutter … kein Geld … er war ein Kriegskind … sie musste die Kinder allein aufziehen.« Ja, das machte sie eindeutig mit Absicht, und dabei lächelte sie liebenswürdig, und dann lachte auch Andrew und schließlich Colin, sodass Johnny ärgerlich sagte: »Ich fürchte, meine Frau hat noch nie auch nur ansatzweise etwas von Politik verstanden.«
»Deine Ex-Frau«, sagte Frances. »Mehrfach ausgewechselt.«
»Das sind meine
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