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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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Ich bin zu leicht für den Krieg im Süden. Mein Organismus macht nicht mit. Orhan zum Beispiel, der ist groß, hat viel Flüssigkeit im Leib. Mein Kräftevorrat reicht gerade mal für eine Stunde. Ich pumpe mich mit dieser lehmigen Brühe voll, kotze fast und bin dennoch als Einziger halb bewusstlos.
    Chitryj reicht mir einen Verband. Die Bäume sind spärlich gesät, es gibt fast keinen Schatten. Die sterilen Wattebäusche stecke ich in die Packung zurück, für später.
    Wenigstens eine Stunde schlafen. In diesen vier Tagen habe ich nicht viel Schlaf bekommen. Zhorik rast wie verrückt. Auf der Straße verbrannte Lkws. Bettlaken mit Fotografien. Ein roter Rumpf humpelt hinter dem Auto her und streckt seine Knochen aus. In einem Keller rissige Lippen: «Wie gut er ist … Bleib doch noch, wenigstens Wasser trink … Wässerchen … Hier sind alle tot, du störst nicht.» Zwei halbe Leichen mit Maschinengewehr: «Bleib doch … Du bist jetzt mit uns.» Wozu bin ich hier? Bin ich nicht schon genug herumgekommen? Orhan? Auch verbrannt? Wann? Nein, er lebt. Ich rüttle an seiner Schulter. Er will ebenfalls weg.
    Wir gehen zu Sulim – bitten um einen Beutejeep nach Zchinwali, der ist ja sowieso nicht offiziell registriert. Jamadajew lehnt ab. Zurück sind es fast dreißig Kilometer, und niemand ist hinter uns. Aber gleich fährt etwas, die Gefallenen zu holen, sagt er.
    ***
    In einem Hubschrauber fünf Verwundete. Die kommen zu den acht, die gestern abgeschickt wurden. Insgesamt also schon dreizehn. Die Panzerfahrer haben eine verbrannte Besatzung hergebracht – zwei Leichen, mit Zeltplane bedeckt.
    Weitere drei trägt die Infanterie heran. Der Propeller lässt die Decke aufflattern. Zum Teufel … Wieder verbranntes Menschenfleisch. Hand- und Fußknochen ragen daraus hervor. An den Händen nicht einmal Knochen, eher Knöchel – solche ganz kleinen. Bei einem ist die Speiche aus dem Gelenk gerissen.
    Diese drei sind aus einer Mucha beschossen worden. Sie konnten gerade noch aus einem brennenden Schützenpanzer springen und rannten schon in Richtung Obstgarten, als sie unter direkten Beschuss gerieten. Der Erste ist noch am besten erhalten, wenigstens Arme und Beine sind erkennbar. Aus einem schwarzen Kohleklumpen blitzen betäubend weiße Zähne heraus.
    Von dem Zweiten sind vielleicht anderthalb Meter geblieben – ein verschmorter Klumpen mit fünf Stummeln. Wo der Kopf war und wo die Arme waren, kann man nicht mehr unterscheiden.
    Der Dritte ist in einen Sack gewickelt.
    Unter der Zeltplane ragen Unterschenkel heraus. Sie schaukeln mit den Bewegungen des Fahrzeugs. Ich kann keine Unterschenkel mehr sehen.
    Mit den Leichen fliegt ein Schwarm Fliegen in den Hubschrauber. Eine von ihnen kreist die ganze Zeit vor meinem Objektiv und stört mich dabei, die brennenden georgischen Dörfer an der Transkam zu fotografieren.
    Und der Geruch … Schade, dass man das in der Zeitung nicht wiedergeben kann. Jetzt, da ich dies schreibe, sind meine Hosen vom Blut der Verwundeten befleckt, und die Uniform stinkt nach angebranntem menschlichem Fleisch. Dieser Geruch ist unglaublich aufdringlich – im Zivilflugzeug wurde ich schief angesehen. Aber beschreiben kann ich ihn nicht. Obwohl ich möchte, dass alle, die von der Größe Russlands reden, ihn riechen. Damit sie ihn von da an überall spüren – im aufgegossenen Tee, in der Zigarette, an den Fingern, die sie halten, im Wasserglas, in der Zahnpaste, in den Haaren des eigenen Kindes …
    Es war immer mein Traum, Kindermärchen zu schreiben, aber seit neun Jahren schreibe ich darüber, wie aufgedunsene Leichen riechen, die bei Hitze auf den Straßen einer zerstörten Stadt liegen.
    Gott sei Dank konnte ich ihre Gesichter nicht sehen. Sie hatten keine mehr.
    ***
    Die Armee erklärt, nur Zeitsoldaten seien in Ossetien einmarschiert. Lüge! Zwei Drittel der Zeitsoldaten waren Rotzbengel, die gerade mal ein halbes Jahr gedient hatten. Und etwa ein Drittel überhaupt Wehrpflichtige. Warum wurde in Zemo-Nikosi ein Laserzielgerät für Raketen gefunden, warum verfügt die georgische Armee über Mobilfunk-Störgeräte, weshalb hatte der Richtkanonier ein Telefonpeilgerät, weshalb hatten sie sogenannte Initiatoren – und wir schicken wieder nur achtzehnjähriges Menschenmaterial in den Kampf? Weshalb war von zwei Schischigas im Sanitätsbataillon nur eine fahrtüchtig, während die andere am Seil geschleppt werden musste? Sechs Stunden mussten die Verwundeten warten, bis sie

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