Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
will da noch von Neutralität reden?
Rasch lösche ich alles. Schade – der Pulitzer-Preis wäre mir sicher gewesen.
Neben mir Chitryj. Er reinigt seine Maschinenpistole. Über Nacht ist seine Fröhlichkeit verflogen.
«Hauptsache keine Panzer heute», sagt er. «Ich mag keine Panzer. Mir wird übel davon.»
Ich sehe ihn an. «Hast du was Weißes?»
Er zeigt mir den Lappen, mit dem er die MP reinigt.
Den binde ich mir um.
***
Wasser, Wasser, Wasser … Kein Wölkchen am Himmel. Die Zikaden zirpen. Die Hitze ist nicht so drückend wie in Tschetschenien, aber fünfunddreißig Grad werden es sein. Im Graben eine trübe, dreckige Flüssigkeit. Der Kadaver eines Kalbes treibt darin. Ach, scheiß drauf. Wir trinken davon, füllen die Kanister und Behälter. Desinfektionstabletten hätten wir von den Sanitätern mitnehmen sollen. Im Dorf gibt es bestimmt einen Brunnen. Höchste Zeit …
***
Einen wiederholten Sturm gab es nicht. Die Kolonne machte kehrt und zog in Richtung Zchinwali. Gute Stimmung bei allen. Nach Hause! Die Infanterie lacht. Auf den Schützenpanzern die Trophäen – NATO -Kunststoffhelme prangen auf den Suchscheinwerfern.
Dann stellt sich heraus, dass wir wieder eine Kurve verpasst haben. Nach etwa zwei Kilometern heißt es umdrehen und direkten Kurs auf Gori nehmen. Zum Teufel …
Wir bewegen uns erneut in Marschordnung. Ohne Aufklärung. Ohne Luftunterstützung. Ohne alles.
Jamadajew steckt seine Nase nicht vor die Kolonne. Er überlässt es den Föderalen, die Feuerpunkte mit den eigenen Soldaten aufzudecken. Und den Föderalen ist es auch scheißegal. Kanonenfutter haben wir einen Waggon voll, die Weiber werden neues gebären.
Dann ist die Luftwaffe aufgetaucht und bearbeitet jetzt Zemo-Nikosi in unserem Rücken. In der Nähe des Kuhstalls raucht es wieder. Die Artillerie schießt über unsere Köpfe hinweg auf eine zwanzig Kilometer entfernte Anhöhe. Das ist Gori. Wie sich herausstellt, befinden wir uns schon in Georgien. Ich nehme das Dragunow-Scharfschützengewehr von Ruslan. Durch den Sucher sieht man den Mobilfunkturm auf dem Hügel und die Geschützbunker darunter, von wo aus die Selbstfahrlafetten gestern geschossen haben. Jetzt steigt dort fetter Rauch auf. Sie sind entdeckt worden …
Unterwegs halten wir an jeder Pfütze an. Die Infanteristen krabbeln wie die Ameisen von der Panzerung und stürzen sich auf das Wasser. In den Pfützen das Gleiche wie überall – eine Mischung aus Lehm und Erde.
Ein paar einzeln stehende Höfe, die Hinterhöfe irgendeiner Siedlung, eine Traktorstation. Alles verlassen. Keine Menschenseele. In den Gärten brechen die Zweige unter der Last der reifen Pflaumen. Unter den Ketten platzen Tomaten. Die Äpfel sind beinahe reif. Der Wein wächst in gerader Linie bis zum Horizont. Alles liebevoll gepflegt, sorgfältig angebaut. Und kein Mensch.
***
Der Marsch nach Gori geht ohne einen einzigen Schuss vor sich. Obwohl der erste Teil der Kolonne kämpfend hierhergelangt ist und im Vorfeld eine Bataillon Georgier vernichtet hat. Die versuchten, hinten herum mit ein paar Jeeps zu entkommen, wurden aber von Schützenpanzern und angerückten «Krokodilen» abgefangen und in Brand geschossen. Auf der Straße qualmen nun verbrannte Lkws. Ringsum Leichen. Einer der Soldaten ganz jung, vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig Jahre. Die Hände zur Brust erhoben. Kleinkindhaltung. In der NATO -Uniform erinnert er an einen Spielzeugsoldaten. Der zweite mit dem Gesicht nach unten im Graben. Dem dritten ragen die zerschmetterten Beine aus dem verkohlten Rumpf. Das Geschoss muss direkt unter ihm explodiert sein. Zerfetztes Fleisch in einer Pfütze aus verbranntem Benzin.
Ich fotografiere … Wem nutzt das alles? Wozu?
Zwei Jeeps sind noch fahrtüchtig. Die Jamadajew-Leute nehmen sie sich.
In Gori selbst rückt die Armee nicht ein. Sie macht in zwei bis drei Kilometer Entfernung halt, in den Gärten einer Siedlung. An einem Hauseingang steht eine betagte Frau. Sie guckt. Niemand beachtet sie. Die Häuser werden nicht geplündert, die Leute nicht terrorisiert. Man betritt das Dorf nicht einmal.
Neben der Station ein Lager für aufgegebene Technik und Munition. Noch zwei Lastwagen im Trophäenlager. Berge von Müll auf der Erde. Ich greife mir einen Rucksack, einen kleinen Teppich und zwei warme Jacken. Wann das hier alles zu Ende ist, weiß man nicht, und schlafen muss ich irgendwie.
In dem Obstgarten wurde gestern auch eine große Kolonne von Reservisten
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