Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
und dreht in unsere Richtung.
Ich greife mir zwei Muchas. Werfe sie sofort wieder hin. Ich darf doch nicht, verdammt, ich darf nicht, bin jetzt ein Kind des Lichts, ich darf keine Waffen mehr in die Hand nehmen! Wo ist Jura? Er darf!
Der zweite und, so scheint es, der dritte Panzer brechen durch die Obstgärten und rollen direkt auf Jamadajews Stab zu. Dort ist alles still. Sie haben sich verschanzt.
Der erste Panzer heult auf und ruckelt voran.
Zwischen Graben und Straße sind etwa zwanzig Meter Land. Man braucht nicht mal zu schießen. Sie werden mit ihren Raupenketten alles zu Mus zerquetschen.
Ich lege mich in eine Erdmulde. Neben mir Artur mit dem Maschinengewehr. Hilfloser Gesichtsausdruck, aber kein Entsetzen. Sogar eine Spur Erleichterung – immerhin ein MG , wenigstens irgendetwas … irgendetwas …
Der zweite Panzer kommt zwischen den Obstbäumen herausgekrochen, rollt auf einen Erdhuckel und bleibt stehen.
Niemand schießt.
An der Kreuzung sind Flüche zu hören. Die Luke des Panzers fliegt auf, jemand springt herunter. Ein Mann mit Taschenlampe geht auf ihn zu. Sie sprechen Russisch.
«Panzerwaffe?»
«Ja, ja …»
Sie fallen sich in die Arme.
Die eigenen Leute.
Wie sich herausstellt, gehören diese fünf Panzer zu jenem ersten Teil der Kolonne, der gestern im Dorf abgeschnitten wurde. Sie waren es, die sich mit MG s bemerkbar gemacht haben, und unsere Leute haben ihnen mit Raketen geleuchtet und sie über Funk herausgelotst.
Das Dorf ist leer, die georgische Armee ist abgerückt, wenn jemand geblieben ist, dann nur die Reservisten in den Kasernen, aber auch die geben kein Lebenszeichen von sich. Fallschirmjäger sind auch nicht mehr hier. Doch irgendwo im Dorf treiben sich noch fünf von unseren Schützenpanzern herum.
Später erzählte ein Kamerad:
«Wir suchten auf den Feldern. Fanden die Kolonne. Schlossen uns am Ende an. Wir fahren. Plötzlich macht die Kolonne halt, der Kommandeur springt vom Führungspanzer herunter und kommt auf mich zu. Ich traue meinen Augen nicht, er trägt eine NATO -Uniform. Ich gebe Befehl, auf den Führungspanzer zu halten, reiße meine MP hoch und ziele auf ihn. Er hat alles verstanden. Geht auf die Knie, legt die MP hin und bekreuzigt sich. Einen Tank hätte ich in Brand setzen können, danach wäre mir nur der Held der Russischen Föderation geblieben – posthum. ‹Pass auf›, sage ich. ‹Du gehst nach rechts, ich nach links, und wir haben uns nie getroffen.›»
In der Morgendämmerung wagen sich die Schützenpanzer heraus. Sie setzen auf der Furt über den Wassergraben über.
***
Am Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, ist die Aufklärung des 71 . Regiments gekommen und unverzüglich im Dorf eingerückt. Solange sie dort sind, frühstücken wir. Das letzte Mal gegessen habe ich … Bei den Friedenstruppen war das. Vorgestern Abend – einen Teller Grießbrei und ein Ei.
Jemand zieht eine Proviantpackung der NATO heraus. Lecker, aber sinnlos. Zwei Hauptgerichte, Reis mit Gemüse und Gemüseragout. Vegetarisch. Kein Gramm Fleisch. In den Ergänzungspaketen Schokolade, Konfitüre, Gebäck, Pralinen, Süßigkeiten. Bei der Hitze geht das noch, im Winter kann man sich davon nicht ernähren.
Man hat auch fast keinen Appetit. Trinken will man schon … Die Hitze beginnt fast sofort mit dem Sonnenaufgang, die Temperatur steigt von Minute zu Minute. Russland hat mehr Wasser als Festland, aber ein paar Wassertransporter zu füllen, das gelingt uns irgendwie nicht.
Ich schaue mir an, was mit meinem Apparat fotografiert worden ist. Gestern habe ich ihn abgegeben und mit einem Ohr noch gehört: «Kopf hoch! Heb deinen Kopf!» Dann habe ich selbst ein paarmal geknipst. Ich wusste nicht, wie die Tschetschenen meine Aktion bewerten würden, deshalb ging ich, als Sulim gesagt hatte, dass er niemanden enthaupten würde, zu den Gefangenen, setzte mich in die Hocke, grölte laut: «Heb den Kopf!», und fotografierte, um dabei zu flüstern: «Pass auf. Ihr werdet nicht umgebracht. Keine Angst.»
Und genau das ist zu sehen. Georgische Kriegsgefangene in Großaufnahme: auf dem Boden liegende, gefesselte Männer, das Gesicht zur Kamera gereckt. Ein Anblick totaler Schicksalsergebenheit. Wie kurz vor der Erschießung.
Mit solchen Speicherkarten in Gefangenschaft geraten. Wer nimmt mir dann ab, dass ich Journalist bin, verflucht? Ich fahre auf dem Panzer einer Kriegspartei, in Uniform, die Hosen mit Blut verschmiert, und auf dem Fotoapparat Erschossene. Wer
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