Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
auf. Bis zum Abflug bleiben weniger als vier Stunden. Tamik rast wie ein Irrer. Weckt mich nur an den Kontrollposten. Ich reiche ihm meinen Pass, er regelt die Sache, und wir fahren weiter.
Eine Stunde vor Abflug kommen wir an. Erst im Boardingbereich gehe ich auf die Toilette und stelle fest, dass ich noch immer die weiße Armbinde trage. Ein schickes Bild: eingestaubt von Fuß bis Kopf. Schief und krumm. Halb tot. Die zerrissene Hose blutig. Stinkt kilometerweit nach verbrannten Menschen. Und dieser Verband.
Schön muss ich ausgesehen haben mitten in der Nacht in Wladikawkaz in einem halben Tarnanzug, mit dem georgischen Beuterucksack und meinen lädierten, nicht zu gebrauchenden Pfoten.
Vielleicht sollte ich das gar nicht mehr ausziehen? Guckt mal, Leute, ich komme aus dem Krieg. Ihr habt ihn doch gewollt. Riecht mal.
***
Erwischt hat es mich dann zu Hause. Zwei Tage später. Ganz plötzlich, aus heiterem Himmel. Ich verlor die räumliche Orientierung, meine Sprache verlangsamte sich, ich litt an Bewusstseinstrübungen. Wellenartig. Wie ich es nach Hause geschafft habe, weiß ich nicht mehr. Welchen Weg ich genommen habe, begreife ich nicht.
Aber Hauptsache, ich bin nicht verwundet. Auf den ersten Blick zumindest.
«Guu-ut… Guut-ten Tag … I… I… Ich hab nix getrunken! Genau. Ja. I… I… Ich … I… I… Ich kann jetzt nich… spree… echen! Etwas ist passiert … Ja. Mir tuu… tuut nix weh … Ich hab nix … getrunken …»
Armer dummer Tropf.
Und dann. In der Imbissstube. Beim Treffen mit einem Freund. Wir bestellten Bier und Kotelett nach Kiewer Art. Es wurde uns serviert. Gute Koteletts. Aus dem gebratenen Fleisch ragt ein Knöchelchen. So ein kleines.
Zu Hause zog ich die Hose aus. Zum ersten Mal seit vier Tagen. Verfluchte Scheiße! Der zweite Splitter hat das linke Knie gestreift und zwei millimetertiefe Furchen hinterlassen. Was für ein Glück ich hatte – zwei Splitter von Panzergeschossen abzukriegen und von beiden nur gestreift zu werden. Einer zehn Zentimeter über der Leiste, der andere genau am Knie. Schwein gehabt.
***
In Russland leben einhundertvierzig Millionen Menschen. Ob sich irgendjemand von ihnen einmal in dieses paradiesische, nunmehr prorussische Zemo-Nikosi verirren wird, für das neun russische Leben geopfert wurden?
Der Ermittler aus Abu-Ghraib
Den neununddreißigjährigen Tony Lagouranis lernte ich auf einem Literaturfestival in Irland kennen. 2004 war er für ein Jahr im Irak gewesen, hatte als Ermittler in dem heute weltbekannten Abu-Ghraib-Gefängnis gedient. 2001 wurde er in die Armee einberufen, diente vier Jahre lang bei der Militäraufklärung, davon ein Jahr im Irak. Dienstrang: Korporal. Stellung: Vernehmungsoffizier des 202 . Bataillons der 513 . Brigade der Militäraufklärung, wörtlich «Interrogator» – also einer, der Verhöre durchführt (am nächsten kommt dem im Russischen der Terminus «Ermittler», aber der Vernehmungsbeamte führt keine Ermittlungen, er verhört nur, um Informationen zu bekommen). Tony hat ein Buch darüber geschrieben, was er dort gesehen hat. Der Titel lautet «Fear up harsh», also «Spezialmethoden» oder wörtlich übersetzt: «Grausames Erschrecken».
Ich werde nichts von Abu-Ghraib und von Amerika sagen, das ist irgendwie sehr weit weg, nicht aus unserer Welt. Ich werde einfach aus unserem Gespräch zitieren. Tony sprach mit Mühe, er musste sich zur Erinnerung zwingen.
Mich erstaunte, wie sehr die Methoden und Arbeitsweisen der US -Armee in Abu-Ghraib den Methoden und Arbeitsweisen der russischen Armee in Tschernokosowo oder des NKWD in Sibirien ähnelten. Mit einer Ausnahme natürlich: Die Iraker sind keine amerikanischen Staatsbürger.
«Tony, erzähl ein bisschen von dir. Wie bist du in die Armee gekommen?»
«Ich habe Philosophie, Literatur und Kunst studiert. Interessierte mich für die arabische Sprache. Für das Universitätsstudium musste ich Schulden aufnehmen, etwa sechzigtausend Dollar. Also unterzeichnete ich einen Vertrag: Die Armee war bereit, meine Schulden zu tilgen und mir Arabisch beizubringen, dafür sollte ich fünf Jahre als Offizier und Übersetzer in der militärischen Aufklärung dienen. Als Vernehmungsoffizier. Ich konnte nicht ahnen, dass ich in den Irak kommen würde, denn den Vertrag unterschrieb ich weit vor dem elften September. Ich dachte, dass ich vielleicht nur in den USA dienen würde – als Neuling durfte man Dienstart und Region noch wählen. Aber im Januar 2004
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