Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Gruppe zu retten.
«Die Rebellen beharkten uns, machten uns klein und zogen weiter. Wer konnte wissen, dass in diesem Nowolakskoje anderthalbtausend ‹Tschechen› unter der Führung von Schamil Bassajew standen? Und niemand kam uns mehr zu Hilfe …»
Insgesamt dauerte Lechas ganzer Krieg vielleicht dreißig Minuten. Als er zum Zugkommandeur zurücklief, detonierte neben ihm eine Mine, ein mächtiger Splitter traf ihn am Oberschenkel, riss ihm beinahe das Bein ab und schlug ihm den Arm auf.
Der Aufprall warf Lecha im hohen Bogen in einen Graben. Die Knochen des zertrümmerten Beins krümelten regelrecht, und durch den Sturz wurde es völlig verdreht und fand sich plötzlich an seiner Schulter wieder.
«Ich gucke, und da laufen dagestanische Bullen vorbei. Männer, rufe ich ihnen zu, legt mir mein Bein normal an. Einer blieb stehen, nahm mir das Bein von der Schulter, setzte es ordentlich an den Rumpf und lief weiter. Und wie das Blut sprudelte! Eine Abschnürbinde hatte ich nicht mehr, damit hatte ich dem Leutnant den Arm verbunden! Da nahm ich eben einen Gürtel …»
Die Schlacht verlief in Schüben – mehrere Stunden lang Schusswechsel, dann Stille –, und Lecha lebte ebenfalls schubweise: einige Stunden bei Bewusstsein, dann schwarze Ohnmacht.
«Ich komme zu mir, da steht hundert Meter entfernt auf einer Anhöhe ein Panzer, und Jungs laufen dort rum. Ich drehe den Kopf in die andere Richtung, zwanzig Meter entfernt von mir – Rebellen. Ich beginne zu schreien – sollen sie mich doch hören und mitnehmen. Aber nichts. So lag ich zwei Tage lang da – Tag und Nacht, Tag und Nacht …»
Diese zwei Tage, die er auf dem Feld bei Nowolakskoje mit beinahe abgerissenem Bein verbracht hat, halb im Fieberwahn, halb ohnmächtig, ohne Wasser und Nahrungsmittel, waren so lang, dass sie einen eigenen, gesonderten Teil seines Lebens bildeten. Wenn er so ins Koma gefallen war und wieder auftauchte, konnte Lecha nicht mehr sagen, in welcher Welt er sich befand – noch hier oder schon dort? Und er konnte die für ihn wichtigste Frage nicht beantworten – war das gut oder schlecht?
Einmal, als er zu sich gekommen war, sah er, wie Hubschrauber das Dorf bombardierten, aber er nahm dieses Bombardement irgendwie verfremdet wahr, als würde er einen Zeichentrickfilm betrachten, in dem er selbst nicht mehr vorkam: Ob sie das Dorf beharkten oder nicht, was ging ihn das an?
Als er ein anderes Mal erwachte, sah Lecha, wie es in der Kraterlandschaft, die früher sein Bein gewesen war, von Maden wimmelte – Dutzende, Hunderte weißer Würmer fraßen sein noch lebendes Fleisch. Er sah ihnen lange zu und begriff nicht, was sie wollten – wussten sie etwa nicht, dass er noch lebte? Dann packte ihn die nackte Angst – sie würden ihn hier im Feld bei lebendigem Leibe auffressen. Diese Maden versetzten ihm den nötigen Schock, rissen ihn aus der Welt des Fieberwahns zurück in die Welt der Lebenden, und er wollte plötzlich leben, teuflisch, um jeden Preis leben. Er kratzte die Würmer mit dem Bajonett ab, und es gelang ihm, sich freizumachen und in die Wunde zu pinkeln …
Als er das nächste Mal wach wurde, fanden sie ihn.
«Ich höre was – ein Flüstern. Na endlich, denke ich, die Jungs … Ich wartete ja die ganze Zeit darauf, dass sie die Verwundeten aufsammeln. Und ich redete genauso leise zu ihnen – ‹Jungs, Jungs, hier bin ich!› Fünf Mann kamen an, ich gucke, nein, das sind keine von uns. Unrasierte Männer. ‹Wer bist du?› – ‹Verwundet›, sage ich, ‹ein Loch, Maden, halber Stiefel voll Blut …› – ‹Weißt du denn, wer wir sind?› – ‹Ja›, sage ich, ‹Rebellen.› Sie setzen mir das Messer an die Kehle: ‹Ja, und wir nehmen dich gefangen.› – ‹Macht schon›, sage ich, ‹mir ist alles recht … Nehmt mich mit.› Zwei Tage ohne Wasser, ohne alles, im totalen Koma.»
Sie schleppten ihn in eine Art Schule oder Kindergarten. Dort waren andere Bärtige, wieder saß gleich das Messer an der Kehle – «du Hundesohn, bist Moslem und kämpfst gegen deine eigenen Leute, bringst Moslem-Brüder um!» Wieder wollten sie ihm den Kopf abschneiden.
«‹Ich bin Russe!›, rufe ich. ‹Ich lebe einfach nur in Baschkirien, bei uns sind alle so!› Ich hatte ein Kreuz bei mir, das zeigte ich ihnen – ‹hier, ich bin Russe›. Sie gerieten in Verwirrung. Das spielte eine Rolle. Sie fragten nach: ‹Wer bist du?› Ich antworte: ‹Ich bin Untersergeant Nowikow.› –
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