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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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abheben, das war eine Qual. Er bat darum, ihm eine Einzimmerwohnung oder ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung zu geben, in einem beliebigen Moskauer Bezirk, im Erdgeschoss oder mit Fahrstuhl. Doch das bekam er nicht.»
    An jenem Tag waren Lopatin und Aparinzew wieder einmal losgezogen, Klinken putzen in der Verwaltung, eine Wohnung mit Fahrstuhl beantragen. Aparinzew konnte sich schon fast nicht mehr allein fortbewegen.
    «Ich führte ihn auf die Amtsstube und blieb selbst auf dem Flur. Zehn Minuten herrschte Stille. Dann begann das Geschrei. Die Frau, zu der wir gekommen waren, schrie. Ich werde sie bis an mein Lebensende nicht vergessen. Sie hat so einen schönen Vornamen – Lilia. Lilia Skworzowa. Und sie schrie so laut, dass man es bis in den Flur hören konnte: ‹Wann seid ihr endlich alle verreckt!!!› Sie schubste ihn geradezu aus ihrem Zimmer …»
    Er verstummt wieder.
    «Natürlich … Natürlich, es ist meine Schuld. Wenn ich ihn aufgefangen hätte, wenn ich nur eine halbe Sekunde früher aufgestanden wäre …»
    Nach diesem Besuch erhob sich Boris Aparinzew nicht mehr vom Bett.
    Er starb drei Monate später. In diesem Zimmer, in dieser Koje hatte der gelähmte Boris Aparinzew gelegen, Kommandeur eines Infanteriebataillons, von niemandem gebraucht, Träger des Alexander-Newskij-Ordens und zweier Rotbannerorden, während die Ratten bei lebendigem Leibe an seinem Gesicht nagten.
    «Ich war an dem Tag irgendwo hingegangen … Komme zurück und sehe, die Ratten laufen auf ihm herum. Ich verscheuchte sie, aber sein Kinn war schon angefressen … Und mit dem Blut liefen auch die Tränen auf das Kissen.»
    Natürlich wäre es übertrieben, der Frau mit dem schönen Namen Lilia die Schuld an dem Tod des Frontsoldaten zu geben. Aber auch Herzlosigkeit und Gemeinheit können töten. Und die Beamten sind unsere Diener, nicht unsere Herren. Einem von Schmerzen geplagten alten Mann mit einem Splitter im Rücken zu helfen ist ihre Pflicht und Schuldigkeit, keine milde Gabe.
    Seither sind fünf Jahre vergangen. Vor mir, in derselben Koje, im selben Zimmer, liegt nun ein kranker Veteran, russischer Flüchtling, und erzählt diese Geschichte. Und nichts hat sich seither verändert.
    Drei Kilometer von hier – auf dem Roten Platz – feiert man den Tag des Sieges. Die Sprecher rufen schöne Worte von Pflicht und Vaterland ins Megaphon.
    Das Symptom des verstärkten Gerechtigkeitsgefühls ist bei Lopatin bis zum Extrem gesteigert. Seine Söhne haben am Ende Arbeit gefunden und verdienen mittlerweile nicht schlecht. Er hätte sich hundertmal die Staatsangehörigkeit kaufen können. Er hat es nicht getan. Und hat es auch seiner Familie verboten.
    Ununterbrochen putzt er Türklinken, geht durch die Instanzen, beharrt auf sein Recht, flucht, reicht Klagen ein. Gegen diejenigen, die vergessen haben, dass sie den Menschen dienen sollen, nicht umgekehrt. Gegen alle, die ihre Arbeit als einen Futtertrog betrachten. Auch nach sechzig Jahren ist der Krieg noch nicht zu Ende. Haufen von Klageschriften, Zeitungsausschnitten, Dokumenten, Gesetzen und Verordnungen stapeln sich auf dem Fußboden, auf Tisch und Stühlen.
    Ich schaue Jurij Timofejewitsch an und denke mir, dass wir selbst es sind, die uns so ein Leben bereiten. Nicht die Machthaber, nicht Putin, Zurabow oder Iwanow – die sind irgendwo dort für sich, über den Wolken, verabschieden Gesetze über die Abschaffung von Vergünstigungen oder die Zerschlagung von JUKOS . Sie interessieren sich nicht für uns.
    Wir sind es, die Bürger Russlands, die unseren Alten die Hilfe versagen. Nicht Putin hat Aparinzew aus dem Büro geworfen, sondern eine einfache Frau, Mutter vielleicht, Ehefrau. Eine Tochter, Nichte oder Enkelin jener Soldaten, die bei Stalingrad und am Kursker Bogen gefallen sind. Nicht Putin ist es, der Geld von ihm für die Staatsbürgerschaft verlangt – es sind ganz normale Männer, Söhne, Neffen oder Enkel.
    Irgendwie haben wir sehr schnell aufgehört, normal zu sein. Fünfzehn Jahre etwa hat es dafür gebraucht. In den Brusttaschen unserer Westen haben wir immer eine gute Ausrede griffbereit: Ich zahle doch Steuern, warum soll ich mir Gedanken darüber machen?
    Nach Boris Aparinzews Tod entbrannte ein regelrechter Krieg um diese Wohnung. Man will sie nicht umsiedeln, sondern versucht, die Lopatins mit allen Mitteln hinauszuwerfen. Ruft ständig an, droht damit, Gas, Wasser oder Strom abzustellen. Jungs mit Schlips und Krawatte kommen zu Besuch und

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