Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
als Bankdirektor vor mir. Ich habe nie von ehemaligen Soldaten gehört, die heute ihr Business irgendwo in der Tschechoslowakei haben. Oder Journalisten, Lehrer, Ärzte geworden wären.
Mehr noch, wenn ich im Ersten Tschetschenienkrieg Leute mit Hochschulbildung getroffen habe, dann war es im Zweiten nicht ein Einziger! Allgemein waren sehr wenige Städter und Vertreter der mittleren Schichten dabei. Von all meinen Bekannten würden heute nur fünf zum Mittelstand zählen. Im Internet ist die Gemeinschaft der Tschetschenienkämpfer auch fast gar nicht vertreten. Und wisst ihr, warum? Weil sie einfach keine Computer haben.
Das Milieu bringt keine Lomonossows und Jessenins mehr hervor. Das Milieu zerquetscht sie.
Die Situation ist von vorrevolutionärer Brisanz. Und die Machthaber spüren das. Schirinowski hat dieser Tage geäußert, die Hauptaufgabe derer da oben sei es, eine Revolution zu verhindern. Auch Surkow und Pawlowski haben sich in diesem Sinne geäußert. In der letzten Zeit geistert das Wort «Revolution» generell oft durch die Medien.
Ein Symptom der Posttraumatischen Belastungsstörung des ehemaligen Kombattanten ist sein geschärftes Gerechtigkeitsgefühl. Ein weiteres das Schuldgefühl, überlebt zu haben, und das Bestreben, diese Schuld wiedergutzumachen. Daher die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben.
Man sollte meinen, dass die Veteranen jene Schicht bilden, die die Gesellschaft am ehesten in die Luft sprengen könnte. Aber … In Russland hat es nie eine Veteranenbewegung gegeben. Vielleicht gerade deshalb, weil es bei uns so viele Kriege gab. Die Menschen sind müde. Es bestanden Ansätze einer Bewegung, aber sie haben sich irgendwann alle zerfasert.
Ein verlorener Bürgerkrieg auf dem eigenen Staatsgebiet, gegen die eigenen Staatsbürger und mit unklaren Zielen, multipliziert mit der katastrophalen sozialen Zersplitterung der Gesellschaft – das hat die Jungs auf vorgezeichnete Bahnen gebracht und lässt ihnen einfach keine Wahl. Entweder beim Wachschutz versauern oder auf dem Bau. Von denen, die mit mir im Zweiten Tschetschenienkrieg waren, sind mindestens die Hälfte zu Trinkern geworden. Sehr viele sind im Knast. Der Rest schlägt sich als Wachleute herum.
So leben wir unbemerkt vor uns hin. Aus der Hoffnungslosigkeit des Krieges zurück in der Hoffnungslosigkeit des Lebens. «Schatten im Paradies», diese Beschreibung trifft es ganz gut.
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Man kann das schwer an einem einzigen Beispiel verdeutlichen. Allein in meiner Erinnerung gibt es Dutzende. Und jedes steht für sich. Da ist Alexander K., der bei einer Detonation beide Beine und einen Arm verloren hat und heute nur von seiner Rente lebt, ohne die Chance auf einen würdigen Platz in der Gesellschaft – nicht einmal das Haus kann er verlassen, es hat keine Rollstuhlrampe. Oder Dima Lachin, die
Nowaja Gazeta
hat über ihn geschrieben. Oder Pascha Pawlin, beide Arme verloren, hat Systemverwaltung studiert, kann aber schon seit einem Jahr keine Arbeit in seiner Stadt finden und kommt nicht aus der Armut heraus. Oder mein Regimentskamerad Oleg, der sich beim Wachschutz still zu Tode trinkt. Oder …
Tschetschenien ist noch nicht gestorben, es lebt, rumort und schmerzt. Und diese Leute hätten eine Chance verdient. Aber der Staat verwehrt sie ihnen beharrlich.
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In Rjazan, wo ich Material über Denis Zharikow sammeln wollte, den sein eigener Kommandeur im Suff erschossen hatte, holte mich Alexej Frolkow, der Chefredakteur der
Nowaja Gazeta
von Rjazan, am Bahnhof ab. Wir standen vor dem Eingang und warteten auf das Auto, das uns in das Dorf bringen sollte, in dem Denis’ Mutter wohnt.
«Onkel, gibst du mir zehn Rubel?»
Ein Junge. Zehn, zwölf Jahre alt, vielleicht auch vierzehn, bei den Obdachlosen ist das Alter immer schwer einzuschätzen. Dreckige Kleidung, er selbst jedoch sauber. Wirkte hungrig, aber auch stolz: «Wenn du mir nichts gibst, zum Teufel mit dir, erniedrigen werde ich mich nicht.» Man konnte schwer definieren, was das für einer war.
Ich fragte: «Und wozu?»
«Onkel, nichts Schlechtes, keine Angst.»
Ich gab ihm zehn Rubel.
Es war noch Zeit, und ich beschloss, mich nach der Nacht zu waschen. In der Toilette stand derselbe Junge. Er wusch sich.
«Danke, Onkel. Ich hab gegessen.»
So hat er es gesagt.
«Hast du keine Eltern?»
«Ja, schon, aber …»
«Trinken sie?»
Darauf sagte er nichts.
«Und wo wohnst du so?»
«Manchmal zu Hause, und manchmal …»
Seit dem Krieg bin ich
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