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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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Ruinen eines deutschen Vorwerks. Er lehnt mit dem Ellbogen an einer zerschossenen Wand. Leutnant Jurij Lopatin, Kommandeur einer MG -Kompanie des 177 . Garderegiments.
    Auf dem anderen Foto ist ein gut aussehender Offizier. Rassiges Gesicht, schwerer Blick. Die Brust mit Orden und Medaillen behängt. Oberstleutnant der Reserve Boris Aparinzew.
    «Seinen Tod werde ich ihnen nie verzeihen», sagt Jurij Timofejewitsch.
    Und beginnt eine Geschichte zu erzählen, die ich schon mehrmals gehört habe. Aber jedes Mal stehen mir wieder die Haare zu Berge.
    Vor der Perestrojka lebten die Lopatins in Tiflis. Jurij Timofejewitsch, Lehrer am Artillerie-Ausbildungsinstitut, hatte alles, was sich ein Mensch nur erträumen kann. Leben. Sieg. Frieden. Zwei Söhne. Eine Frau. Eine Dreizimmerwohnung. Die Artillerie als Wunschberuf.
    Ende der achtziger Jahre gab es Ärger für die Russen in Tiflis. Lopatin beschloss, mit seiner Familie nach Russland zu gehen. Zum Glück lebte in Moskau sein Bataillonskommandeur, Oberst Boris Aparinzew.
    Jedes Mal, wenn er ihn erwähnt, äußert Jurij Timofejewitsch ein und dieselben Worte: «Als der Regimentskommandeur ihm den Alexander-Newskij-Orden überreichte, war das ganze Regiment im Karree angetreten. Und er rief Aparinzew in die Mitte, damit alle es sahen und hörten, streckte ihm den Orden hin und sagte: ‹Dem Bescheidensten der Tapfersten, dem Tapfersten der Bescheidensten!›» Lopatins Zeigefinger fährt hoch, wie in einem Zeichentrickfilm über Winny Poo. Für ihn ist das sehr wichtig – «dem Bescheidensten der Tapfersten».
    Boris Aparinzew nahm die Lopatins bei sich auf. Früher einmal war diese kleine Wohnung eine Gemeinschaftswohnung gewesen, und Aparinzew hatte ein Zimmer darin. Noch früher war hier der Dienstmädchenflügel eines Moskauer Herrensitzes.
    Einige Jahre lang lebten sie zusammen; gingen zusammen durch alle Instanzen, putzten Türklinken. Bis auf einen Flüchtlingsausweis hatten die Lopatins keinerlei Dokumente. Mit dem Zerfall der Sowjetunion waren ihre Reisepässe mit einem Mal ungültig geworden, und der frühere Aufklärer und Veteran verwandelte sich in einen Obdachlosen. Ohne Staatsangehörigkeit, ohne Papiere, ohne Anmeldung, ohne medizinische Versorgung, ohne Wohnung und ohne Existenzmittel. Nicht einmal eine Rente wurde ihm gezahlt.
    «Ich bin kein Straßenlump, für den das Land sich schämen müsste! Ich bin Doktor der technischen Wissenschaften. Habe sechsunddreißig wissenschaftliche Veröffentlichungen! Zwei Söhne mit Hochschulbildung, Computerfachleute! Für die Ausbildung von jedem von ihnen hat der Staat fünf Jahre und wer weiß wie viel Geld aufgewendet», schreit Jurij Timofejewitsch, und sein Zeigefinger löchert erneut die Decke. «Und uns braucht hier niemand! Der Staat handelt mit der Staatsbürgerschaft wie mit Keksen. Hier, schauen Sie.» Er streckt mir eine sorgfältig gefaltete Zeitungsnotiz hin. «Hören Sie mal, wie man die Staatsbürgerschaft kriegt. So nämlich: Auf einem Quadratmeter waren – setzen Sie sich, sonst haut es Sie um – fünfhundert Aserbaidschaner gemeldet! Mir sagt man jedes Mal: Opa, was machst du es dir so schwer? Fünfhundert Dollar – und du hast den Pass. Aber woher soll ich fünfhundert Dollar nehmen? Für vier Personen sind das zweitausend, eine unvorstellbare Summe für mich. Und überhaupt, warum muss ich dafür zahlen? Das hier ist mein Land, warum muss ich bezahlen?»
    Er schaut mich eindringlich an. Lodernd der Blick.
    «Uns Flüchtlinge aus den ehemaligen Republiken hat man einfach auf den Müll geworfen. Mein älterer Sohn hätte schon zehnmal in die USA fahren können – dort wollen sie ihn, dort wird er gebraucht. Hier nicht. Aber warum sollen wir auswandern? Dies ist meine Heimat, hier liegen meine Frontkameraden, für dieses Land habe ich gekämpft, warum soll ich auswandern?»
    Jurij Timofejewitsch verstummt plötzlich. Sein Blick wird schwer, er wirkt zerstreut.
    «Vor fünf Jahren ist Boris Aparinzew gestorben. Er bekam plötzlich heftige Schmerzen …»
    Es fällt Jurij Timofejewitsch sehr schwer, zu erzählen, wie sein Frontkamerad gestorben ist. Er tut das mit langen Pausen. Der Zeigefinger fliegt nicht mehr über seinen Kopf.
    «Er war verwundet, hatte vom Krieg einen Splitter im Rücken – in der Wirbelsäule. Jeder Schritt war sehr schmerzhaft für ihn. Und hier hochzusteigen, in die Wohnung, in den ersten Stock, war einfach unerträglich. Verstehen Sie? Brot einkaufen oder die Rente

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