Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
säbelten ab, was überflüssig war, egal was, Fleischstücke, Haut, alles weg … Den Rest klebten sie wieder ordentlich dran. Das war’s. Nach drei Tagen ging’s nach Burdenko, dort lag ich anderthalb Monate, bekam eine Prothese, lief sie ein, und zurück ins Gebirge.»
«Ohne Bein? Auf der Prothese?»
«Das Kommando hat Entgegenkommen gezeigt. Ich von mir aus habe keinen Entlassungsantrag gestellt – wozu, wenn ich normal gehen kann. Die Prothese hält. Ja, stimmt, ein paarmal ist sie angebrochen, da haben sie Klebeband rumgewickelt, und fertig. Arbeit gibt’s genug, was soll ich mich da mit irgendwelchem Quatsch abgeben. Heute geht’s in den Himmel, morgen vielleicht auf einen Einsatz – wir sind bereit, warten nur auf den Befehl. Durchhalten, bis zum bitteren Ende. Damit man sich später nicht schämt, in Rente zu sitzen und die Nachrichten zu gucken. Man muss seine Sache zu Ende bringen.»
«Bedrückt dich so ein Leben nicht?»
«Weiß nicht.» Er lacht. «Ist in Ordnung so.»
«Hast du eine Wohnung, Familie?»
«Familie ja, Wohnung kriege ich erst mal nicht.»
«Bist du nicht wütend auf den Staat?»
«Hör mir auf mit dem Staat! Schau hin, dort ist der Staat – dort stehen die Jungs. Die müssen wir ausbilden, damit der Feind sich nicht ins Fäustchen lacht. Die jungen Rekruten lassen sich leicht erwischen – in einem Hinterhalt oder im Kampf. Für die kämpfe ich. Für diese Burschen, damit sie nicht brüllen, wenn ihnen die Kehle durchgeschnitten wird. Rechtzeitig ausbilden müssen wir sie. Ja, und natürlich für das Volk. Für die alten Weiblein, für die Obdachlosen, damit niemand sich über sie lustig macht. An dich selbst denkst du da nicht. Du denkst an die Leute neben dir, dann läuft die Arbeit. Jeder hat seinen Kampf im Leben zu kämpfen, manche haben es schon hinter sich, andere noch vor sich. Da oben sollen sie meinetwegen verraten, wen sie wollen – uns, sich selbst, ihre Verwandten, wir haben unsere Aufgabe zu erfüllen und nicht zu schauen, wer wen verkauft oder verrät. Auch wenn da ein Neger Präsident wird, ist egal …»
«Kannst du dir ein Leben in Frieden vorstellen?»
«In Frieden? Weiß nicht, mal sehen. Etwas wird sich finden.»
«Letzte Frage. Sag. Drei Rote Sterne. Held der Russischen Föderation. Afghanistan. Tschetschenien. Mit einem Bein im Sondereinsatz in den Bergen und als Fallschirmjäger. Hast du nicht das Gefühl, dass du etwas Besonderes bist?»
«Ach was. Andere haben es schwerer.» Wieder lacht er. «Es geht doch. Auf das Volk. Auf unsere Jungs. Auf die Luftlandetruppen!»
Stalins Gegenspieler
«Der Überfall auf Kuban misslang. Der Oberst (ich kann seinen Namen nicht nennen, er führt den Partisanenkrieg im Kaukasus bis heute fort) formierte eine neue Einheit. Wir versuchten, über die Berge nach Georgien zu entkommen. Als die Amnestie verkündet wurde, ergab ich mich […] den Offizieren. Vier Monate verbrachte ich im Gefängnis. Von dort wurde ich nach Grozny verlegt, dann, in einem Spezialwaggon, nach Wladikawkaz. Ich bestritt meine Schuld und lehnte es ab, mich schuldig zu bekennen. Da führte man mich und noch drei weitere Geflohene zur Erschießung. Einer wurde zwei Schritte von mir entfernt erschossen, ein zweiter ebenfalls. Aus irgendeinem Grund haben sie mich am Leben gelassen …»
Das ist kein Ausschnitt aus einer Reportage von Anna Politkowskaja und kein Bericht der Menschenrechtsorganisation Memorial über die Situation in Tschetschenien. Diese Zeilen wurden vor über achtzig Jahren geschrieben – 1925 . Ihr Autor ist Sozerko Mal’sagow. Ein Mensch, dem die erste und einzige Flucht aus dem Konzentrationslager auf den Solowki-Inseln gelang. Sein Buch «Die Hölleninsel» war im Grunde auch das erste Buch über die Verbrechen der Sowjetmacht. Es erschien ein halbes Jahrhundert vor Solschenizyns «Archipel Gulag» und vor den Erinnerungen Schalamows.
Das Bemerkenswerteste an diesem Buch aber ist, dass es – entfernt man die Jahreszahlen und ersetzt «Bolschewiken» durch «Föderale», «Weißgardisten» durch «Terroristen» – verblüffend an heutige Reportagen aus dem Kaukasus erinnert.
Noch vor fünfzehn Jahren hätte Sozerko Mal’sagows Schicksal wie eine Märchengeschichte wirken können. Ein Zarenoffizier, politischer Häftling, Flüchtling, Offizier der polnischen Armee, Kriegsgefangener, politischer Emigrant. Zu viel für einen einzelnen Menschen, sollte man meinen. Doch das Leben schreibt die besten
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