Ein Toter hat kein Konto
Diesem Banditen war es gelungen,
alle seine Beutezüge — falls sie denn alle auf das Konto dieses Phantoms gingen
— erfolgreich zu Ende zu führen. Nie war er oder einer seiner Komplizen zu
Schaden gekommen. Der Coup, der ihn mit einem Schlag zum Star gemacht hatte,
schien schlecht organisiert gewesen zu sein: Einer seiner Männer war auf der
Strecke geblieben, war sozusagen in den Armen des Feindes gestorben. Das mußte
dem As der Asse, vorsichtig ausgedrückt, schlecht geschmeckt haben. Immerhin
hatte der Coup rund sechs Millionen Francs eingebracht, die bisher nicht mehr
wieder aufgetaucht waren. Ohne den Kunstfehler — den Tod des Bandenmitglieds
und seine letzten Worte — hätte man jedoch nie etwas von der Existenz des
Spinners erfahren. Publicity hat eben ihren Preis...
Weitere Verbrechen mit arabischer Beteiligung
führten mich zu einer merkwürdigen Feststellung. Möglicherweise wegen der
Wiedereinführung demokratischer Verhältnisse war das politische Niveau der
Araber, die in die Vororte von Paris verpflanzt worden waren, höher und ihr
Interesse größer als vor dem Krieg. Hier und da wurden Versammlungen
verschiedener Parteien gestört, sei es durch Geschrei, durch den Einsatz von
Knüppeln oder Fäusten. Dahinter standen Algerier, die bemüht waren, die auf
Plakaten angekündigte Kontroverse in die Diskussion hineinzubringen. Die
Journalisten sprachen von „Söldnern“ und verlangten eine strengere
Reglementierung der Immigration.
Ich sah Hélène an.
„Ist das alles?“
„Das Beste hab ich für den Schluß aufgehoben“,
sagte meine Sekretärin und reichte mir einen weiteren Artikel. „Die Meldung ist
nur im Crépu erschienen, und da auch nur in einer einzigen Ausgabe. Marc
Covet hat mich darauf aufmerksam gemacht. Er selbst hat den Artikel geschrieben
und wurde deswegen sowohl von seinem Redaktionschef als auch von der Tour
Pointue heftig gerügt. Die Sache war wohl noch nicht zur Veröffentlichung
freigegeben worden. Man war dabei, eine Polizeifalle aufzubauen, und es sollte
vorläufig alles geheim bleiben. Aber Covet hat’s irgendwie vergessen.“
Ich las:
Heute morgen wurden bei einer Polizeiaktion in
Montreuil mehrere Araber verhaftet, die in einer stillgelegten Kfz-Werkstatt
zusammen mit streunenden Hunden und Ratten hausten. In der Abschmiergrube wurde
eine Kiste mit automatischen Waffen gefunden. Nähere Einzelheiten sind nicht
bekannt. Die Festgenommenen, die weder einen Beruf haben noch sich ausweisen
können, leugnen hartnäckig, etwas von der Kiste und ihrem brisanten Inhalt
gewußt zu haben. Die Polizeiaktion hatte nicht den Charakter einer Razzia.
Angeblich wurde das Waffenlager nur rein zufällig gefunden. Nichtsdestoweniger
schien die Aktion gut vorbereitet, was auf eine Fortsetzung schließen läßt. Wir
werden unsere Leser auf dem laufenden halten. Der Inspektor der Kripo, der die
Ermittlungen leitet...
Die Meldung war drei Tage alt. Der Journalist
hatte sich vom Namen des Inspektors verwirren lassen und ihn in zwei Teile
geteilt: Andréjol hieß der Mann bei ihm.
„Sie haben nicht umsonst den Staub des Archivs
geschluckt, Hélène“, sagte ich zu meiner Sekretärin. „Apropos Staub: Am besten,
wir trinken noch einen Aperitif.“
„Sie haben also eine Theorie, Chef. Wird sie
durch das da bestätigt?“ fragte Hélène lächelnd und wies auf die
Zeitungsartikel, die zwischen unseren Gläsern auf dem Tisch lagen.
„Das da“, erwiderte ich, „erhellt einige dunkle
Punkte. Jetzt weiß ich zum Beispiel, was Andréjol ins Antinéa gelockt
hat und welchen Geschäften sich Freund Honigkuchenpferd außer den Drogen sonst
noch so widmet. Viel gefährlicheren und viel einträglicheren! Den Handel mit
Menschenfleisch hatte ich schon entdeckt. Dazu kommt also noch Waffenhandel.“
„Handel mit Menschenfleisch?“ wiederholte Hélène
entsetzt.
„Nicht zum Essen, keine Sorge! Sie können
weiterhin ohne Bedenken Ihr tägliches Fleisch verspeisen. Übrigens, es ist Zeit
zum Mittagessen...“
Im Hinausgehen kaufte ich mir die allerneueste
Ausgabe des Crépuscule. Zwei Spalten auf der ersten Seite nahm der
Überfall auf den Kassierer in Batignolles ein, von dem ich auf den Korridoren
der Kripo bereits erfahren hatte. Der Artikel enthielt die üblichen
Anspielungen auf eine mögliche Beteiligung von Riton-dem-Spinner.
Verloren auf Seite 5, zwischen einem
Taschendiebstahl und einer Reklameanzeige für ein Hühneraugenmittel, wurde von
dem Unfalltod —
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