Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
sehr oft. Zu Zeiten wie diesen, wenn die Nacht hereinbricht und überall im Land die Fernseher eingeschaltet werden und durch verzweifelte, ungewollte Träume flackern, ein kollektives Vergessen, genau zu diesen Zeiten denke ich an die Kirche und meinen letzten Besuch dort. Dem Vikar hatte ich bereits gesagt, daß ich wegziehen würde, und an diesem Morgen hatte Sidney mir berichtet, daß mein Haus verkauft sei. Meine Notizen behaupten, daß das Gespräch begann, als der Vikar sich neben mich in die vordere Bankreihe quetschte.
»Das Schild ist weg, wie ich sehe. Dann haben Sie es sich wohl anders überlegt?« Ich schüttelte den Kopf und machte ihm etwas
mehr Platz. »Na, dann hoffe ich wenigstens«, fuhr er fort, »daß Sie einen schönen Profit gemacht haben.«
Ich nickte. »Ein Riesengeschäft.«
»Dann ist es also zu Ende«, sagte er und schaute mich Bestätigung heischend an.
Ich sagte: »Autsch!« Was ihn dazu brachte, sich vorzubeugen und die Augen zu schließen, vermutlich um für mich zu beten.
Nach einer langen Pause setzte er sich wieder auf, hielt jedoch die Augen noch geschlossen, als hätte sich etwas Unerfreuliches in sein Gebet geschlichen, das sich materialisieren würde, wenn er sie öffnete. »Was meinen Sie, werden Sie das alles ein wenig vermissen?« fragte er schließlich. Er hatte zu laut gesprochen, und ein Vogel flatterte mit einem Zwitschern hoch oben durch den Kirchenraum. Wir schauten beide zu ihm hoch, und der Vikar wartete meine Antwort nicht ab. »Ich frage mich oft, was aus ihnen wird. Man sieht doch nie irgendwelche Kadaver, oder? Eigentlich müßten Millionen von toten Vögeln überall herumliegen, auch jetzt.« Er beugte sich wieder vor, aber diesmal waren seine Augen weit offen, als hätte sich der Eindringling in sein Gebet als doch nicht so unerfreulich erwiesen.
»Ja, ich glaube, ich werde es vermissen«, erwiderte ich. »Das hier zumindest. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum. Außer natürlich, daß das Ganze hier schon einige Jährchen auf dem Buckel hat. Ist deshalb schade, daß sich die Leute hier drinnen nicht gerade drängeln.«
»Dann muß man sich mit den Seelen der vielen Verstorbenen begnügen, meinen Sie. Ich persönlich versuche ja, nicht zu oft an sie zu denken. Viel zu deprimierend, wenn Sie mich fragen, die Ewigkeit, meine ich. Oder die Unendlichkeit. Der große Kleinmacher. Unsere Galaxiengruppe zum Beispiel hat einen Durchmesser von sechs Millionen Lichtjahren. Die Milchstraße ist nur hunderttausend Lichtjahre breit, wobei ein Lichtjahr sechs Millionen Millionen Meilen entspricht. Und bei der letzten Zählung kam man auf hunderttausend Millionen Galaxien.«
»Puh«, machte ich, »das denken Sie sich aber jetzt nicht nur aus, oder?«
»Ein paar Nullen hin oder her vielleicht. Ich muß sagen, manchmal frage ich mich schon, was Gott sich eigentlich dabei gedacht hat. Da ist wohl ein bißchen die Begeisterung mit ihm durchgegangen, wenn Sie mich fragen.«
»Groß gedacht hat er auf jeden Fall«, trug ich bei.
»Aber warum gar so groß, das frage ich mich, außer er will damit andeuten, daß er durchaus weiß, was er sich bei anderen, kleineren Dingen gedacht hat. Oder es ist ihm alles außer Kontrolle geraten.« Er stand auf und deutete scharf zur Seite. »Schauen Sie sich nur das Licht an, was noch davon übrig ist, wie es durch das Buntglasfenster fällt. Grelle viktorianische Frömmigkeit und Aufmunterung. Die Figuren scheinen durch einen ewigwährenden Morgen zu stapfen.«
»Also für mich sehen sie recht fröhlich aus. Sind sie denn nicht im Paradies oder auf dem Weg dorthin oder so was in der Richtung?«
Er ignorierte das und ging zum Altar. Der Vogel flatterte noch einmal in der Höhe durch den Kirchenraum. Der Vikar setzte sich unvermittelt auf die Altarstufen und umklammerte die Knie mit den Armen. Eine Weile schaute er sich mit einem überwältigten Ausdruck einfach nur um, bevor er den Blick wieder auf mich richtete, das einzige, was er vom Hier und Jetzt vor sich hatte, aber dennoch eine Erleichterung.
»Es ist immer traurig, wenn sich jemand aus dem Staub macht. Ich vermute, Sie kommen nie mehr zurück und leihen uns Ihre Stimme. Oder bringen Ihre Schwester mit. Also das war mal eine Stimme! Ich kann mich noch gut an diesen Sonntag erinnern. Das war doch damals eine wirklich schöne Andacht, nicht?«
Nun ließ er den Blick wieder schweifen, und ich fing an, in einem Liederbuch zu blättern. »Denn tausend Jahre sind vor Deinen
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