Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
wir tatsächlich erlebt haben. Für mich war es so, als würde ich in einem Buch blättern, das die gesamte Geschichte abdeckte, immer mehr von derselben Entsetzlichkeit. Mein Blick fiel auf eine Gruppe kleiner Kinder, und ich fragte mich, was aus ihnen geworden war. Die Gesichter waren verschwommen, und sie alle lächelten leicht, in diesem Augenblick abgelenkt von dem, was bereits passiert war und als nächstes passieren würde, auch wenn es das Schlimmste war, das je passieren konnte. Er wartete, daß ich etwas sagte, aber ich dachte nur, daß er damit eine Schau abziehen wollte. Bei solchen Dingen konnte es keine Übertreibung geben, und doch mußte er übertreiben. Es ärgerte mich, daß so ein Mann bei jemandem wie mir Eindruck schinden wollte.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Es ist so schrecklich. Waren Sie ...«
Da hörte man aus dem Zimmer, an dem ich im Gang vorbeigekommen war, ein lautes Krachen und einen schrillen Schrei, gefolgt von einem Schlurfen. Ich schaute ihn an, und die Flasche in seiner Hand war noch ungeöffnet.
»Meine Frau ...«, begann er, schüttelte aber dann den Kopf und öffnete die Flasche. »Den ganzen Tag sitzt sie über ihren Wandteppichen, stickt weiße Adler und wunderschöne, unwirkliche Blumen. Ja, Blumen liebt sie sehr. Wenn sie sich auf einen Stuhl stellt, kann sie die echten wild in Mr. Fosters Garten wachsen sehen.«
»Ist sie auch Polin?«
Er antwortete nicht, sondern nahm ein Buch aus dem Regal und gab es mir. Es trug den Titel Das Warschauer Getto und bestand vorwiegend aus Fotos. Ich blätterte darin, während er weiterredete.
»Meine Frau schaut es sich nie an. Sie ist nur Halbjüdin. Aber sie war dort, in einem anderen Getto.« Er zog noch ein zweites Buch aus dem Regal. Dieses trug den Titel Das Getto von Lodz. »Sie können sie mitnehmen«, sagte er. »Auch in dem Getto war sie nicht, aber die waren ja alle gleich. Sie schaut sich diese Bücher nie an. Sie kommt auch nie in dieses Zimmer, wegen der Fotos. Ich schaue mir die Bücher manchmal an, als könnte ich irgendwo ihr Gesicht darin finden. Nachdem ich sie in Schottland kennengelernt hatte, sie war Dienstmagd und ziemlich allein, hat sie mir lange nicht erzählt, was passiert ist, bis zu dieser Nacht, als wir uns zum ersten Mal liebten, und dann, als der anbrechende Tag schon über unser Bett fiel, da hat sie es mir erzählt. Seitdem hat sie kein Wort mehr darüber verloren. Warum bewahre ich also diese Bücher und Fotos auf? Weil ich sie nie wegwerfen könnte. Undenkbar, nennen Sie das, absolut undenkbar.«
Ich blätterte weiter in den Büchern. Seite um Seite der äußersten Grausamkeiten und einer Verzweiflung der Art, wie sie jeder schon irgendwo, irgendwann gesehen hat. Und plötzlich nahm ich es ihm übel, daß er mich dazu drängte, diese Bücher mitzunehmen, und von mir erwartete, daß ich etwas dazu sagte, obwohl ich
doch unmöglich etwas zu sagen haben konnte, so als hätte ich irgendein Gefühlsdefizit, auf das er meine Aufmerksamkeit lenken wollte. Ich stand auf, aber er füllte mein Glas noch einmal.
»O nein, vielen Dank, wirklich«, sagte ich und klopfte mir auf die Brust, als würde ich plötzlich heftiges Sodbrennen bekommen. »Muß jetzt los. Erwarte noch einen Anruf. Meine Tochter hat eben ein Baby bekommen.«
Er zündete sich eine Zigarette an, und anfangs dachte ich, er wäre beleidigt, aber dann schenkte er mir ein Lächeln, das voller Freundlichkeit war und ohne jede Spur von Herablassung. Er stand auf, legte mir den Arm um die Schultern und führte mich über den Gang zurück ins Wohnzimmer, wo die beiden jungen Männer noch immer den Fernseher anstarrten. Im flackernden Halbdunkel sah ich unter dem Fenster einen Haufen, der aussah wie eine Ansammlung von Schlaf- und Rucksäcken.
»Ach du meine Güte«, sagte er und imitierte die oberen Schichten in seinem polnischen Akzent. »Jetzt sind Sie gekommen, um meine Sicherung zu richten, und ich habe Ihnen die Ohren über Polen vollgequasselt.«
»Ich bitte Sie. Es war sehr interessant. Ich würde nur gern mehr darüber wissen, das ist alles.«
»Warum sollten Sie? Wenn Sie das wirklich wollten, würden Sie bereits genug wissen. Schauen Sie sich hier unsere neue Generation an, wie sie sich Ihre Seifenopern anschaut und in Discos geht und immer nur mehr Geld will. Das ist der Grund, warum wir Schlachten gewinnen und frei sein wollten, damit unsere jungen Leute zu lauter Musik tanzen und sich blöde Sendungen anschauen und Geld
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