Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
lief es dann auch, und während mir dieser ganze Erfolg zu Kopf stieg, hatte ich weder die Zeit noch die Notwendigkeit, viel nachzudenken oder überhaupt zu denken, wenn ich es mir recht überlege. Indem ich etwas aus mir selbst machte, war es weniger wichtig, wenn nicht sogar völlig unwichtig geworden, welche Gedanken ich mir über andere machte. Eine Frage der Prioritäten, würde Plaskett sagen. Also zurück zu dem Punkt, wo ich abgebrochen hatte.
Virginia hat recht gehabt in bezug auf Mrs. Hamble. Ein paar Wochen vor meiner Beförderung und dem Beginn meines neuen Lebens wurde sie in einem Krankenwagen weggebracht. Es geschah
in den frühen Morgenstunden, und niemand bekam es mit. An diesem Abend kam Hamble an unsere Tür, als wir es uns eben vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten. Ich drehte die Lautstärke so weit herunter, daß ich mitbekam, was er zu meiner Frau sagte.
»Wollte Ihnen nur sagen, daß Mrs. H. im Krankenhaus ist und es ihr sehr leid tut, daß sie sich nicht verabschieden konnte.«
Meine Tochter stellte sich zu meiner Frau an die Tür und sagte: »Wann kommt sie wieder heim?«
Seine Antwort klang sehr nüchtern und sachlich: »Sie wird nicht wieder heimkommen. Sie liegt im Sterben. Ist schon fast nicht mehr von dieser Welt.«
Meine Frau sagte: »Das tut mir sehr leid. Kommen Sie doch rein, nur für einen Augenblick. Ich bitte Sie.« Wie sie das sagte, klang es völlig aufrichtig, was für sie sehr, sehr schwer (einfach) sein muß, da aufrichtig klingen (empfinden) ja sozusagen ein Teil ihres Berufs ist.
»Nein, nein, aber trotzdem vielen Dank. Sie hat mir ganz besonders ans Herz gelegt, daß ich Virginia schöne Grüße ausrichten soll.«
Der Rest war nur noch gemurmelt. Dann wurde die Tür geschlossen, und ich drehte die Lautstärke wieder hoch. Virginia ging sofort in ihr Zimmer. Sie weinte nicht, weder an diesem Abend noch später, bis zum Ende. Sie hatte es schon seit langer Zeit erwartet.
Meine Frau kam ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher leiser.
»Die Arme«, sagte sie. »Ist das nicht furchtbar?«
Ich hatte nichts zu sagen. Ich schaute meinen Sohn an, der, den Fernseher wieder lauter stellend, fragte: »Was hat sie denn?«
»Krebs, so wie’s klingt«, sagte ich. »Ganz schön beschissen.«
»Es ist zu ... Wir sollten erst gar nicht versuchen, etwas zu sagen«, sagte meine Frau, weise, wie sie ist.
Mein Sohn runzelte die Stirn, als er die Schritte seiner Schwester über uns hörte.
»Ich schätze, du hast recht«, sagte ich.
Ich stellte mir die Hambles zusammen im Krankenhaus vor,
händchenhaltend, aber ebenfalls sprachlos. Ich hoffte, daß Virginia geschont werden, man es ihr ersparen würde ... aber was? Mrs. Hamble im Krankenhaus zu besuchen oder nicht zu besuchen, die Realität des Sterbens oder es sich vorstellen zu müssen, was ihren jugendlichen Horizont eigentlich noch überstieg?
»Stirbt sie?« fragte mein Sohn und drehte den Fernseher noch lauter, um die Geräusche zu übertönen, die seine Schwester machte (indem sie oben auf und ab ging, so jung, so sorglos).
»Wir wissen es nicht«, sagte ich. »Heutzutage ...«
»Früher oder später wird es soweit sein, mein Lieber«, sagte meine Frau zu ihm. »Ach, dreh doch mal diesen Apparat leiser. Es bringt nichts, irgendwas zu heucheln, irgendwelche Ausflüchte zu benutzen. Wenn man alt wird ...«
Da ich an der Art, wie sie sich aufrichtete, merkte, daß sie vorhatte, sich ein wenig über geriatrische Probleme, ich glaube, so heißt das, auszulassen, und da außerdem eben ein neuer Krimi anfing, dessen erste wichtige Szenen ich nicht verpassen wollte, deutete ich mit dem Finger auf sie und sagte: »Ich dachte, du hast gesagt, wir sollten gar nicht versuchen, irgendwas zu sagen.«
So hatte ich zuvor noch nie mit ihr gesprochen, hätte es mir nicht einmal träumen lassen. Ich weiß nicht, wie sie es aufnahm. Außer, daß sie sorgenvoll auf meinen Sohn hinunterblickte, der gebannt ein Handgemenge und eine tödliche Messerstecherei und gutturale Schmerzensschreie in einer finstren Gasse irgendwo in Amerika verfolgte, so als würde sie sich damit abfinden, daß, bei einer Vorliebe für solche Dinge und einem Vater wie mir, die Lebenschancen ihres Sohnes in den Minusbereich gerutscht waren.
Etwa zu der Zeit begannen, wie gesagt, die Tage meines Wohlstands. Darüber gibt es nicht viel zu berichten. Ich habe inzwischen eine Wampe, ein Doppelkinn, und meine Platte wird immer größer. Schon bald schaute
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