Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
nichts. Leonite war gerade in den angrenzenden Raum verschwunden, als Seth eine weitere Bekannte erblickte. Er nickte ihr zur Begrüßung zu, und Charlotta Wallin senkte zur Antwort diskret den Kopf. Seth sah auch ihren Kavalier, einen Mann, den er vom Hof kannte. Das war zweifellos ihr neuester Liebhaber. Die Brillantsterne, die Seth ihr bei Stockholms angesagtestem Juwelier, Emil Zackelius, gekauft hatte, glitzerten in Charlottas Haar, und ihr weinrotes Kleid schmeichelte ihrer vollendeten Figur perfekt. Sie war in vielerlei Hinsicht eine großartige Frau, dachte er, aber er war nicht im Geringsten enttäuscht gewesen, als sie kurz vor Weihnachten ihre Beziehung beendete. Seltsamerweise war er vor allem erleichtert gewesen.
Die Familie Wilhelm Löwenström war zum ersten Mal zum königlichen Ball eingeladen worden, und sogar Harriet hatte sich von ihrem Krankenbett erhoben, um mit ins Schloss zu kommen.
«Wie sehe ich aus?», flüsterte Sofia.
«Du siehst wundervoll aus, meine Liebe», antwortete Beatrice automatisch, bestimmt zum zwanzigsten Mal. Beide trugen Ballkleider aus Augusta Lundins Atelier – Sofia einen Traum in violetten Schattierungen, von zartem Flieder an der Taille bis zu kräftigerem Lavendel in der langen Schleppe. Ihre langen Locken waren mit lila Samtbändern geschmückt, und dazu trug sie lange weiße Handschuhe, die ihr fast bis zu den Achseln reichten. Es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt atmen konnte, so eng war ihr Korsett geschnürt – doch der Effekt war freilich umwerfend.
«Und wenn er jetzt nicht kommt?», fragte Sofia, und Beatrice musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Keinen Menschen auf der Welt liebte sie mehr als Sofia, aber im Moment hätte sie sie erwürgen mögen. Seit dem Ausflug zum Nybroviken vor über einem Monat hatte sich Sofias Verliebtheit Tag für Tag gesteigert und grenzte inzwischen ans Unerträgliche. Johan hatte sie vor Weihnachten einmal besucht, aber danach war er beruflich unterwegs gewesen, was bedeutete, dass Beatrice die Tage zwischen den Jahren, Neujahr und den Dreikönigstag damit verbringen musste, das Thema Johan Stjerneskanz bis zu Beatrices Überdruss immer wieder durchzukauen.
In vielerlei Hinsicht hatte sich Weihnachten lang hingezogen, dachte Beatrice, während sie eine riesige grüngesprenkelte Marmortreppe hinaufgingen. Hätten sie sich nicht die ganze Zeit auf den königlichen Ball freuen können, wäre sie verrückt geworden. Aus irgendeinem Grund war der Onkel strenger denn je zu ihr gewesen. Er hatte ihr fast alle Bücher weggenommen, ihr befohlen, Klavier zu üben, sie zur Bibellektüre gezwungen und sie für jede Bagatelle gescholten. Es kam ihr vor, als wollte er ihr jede kleine Eigenheit austreiben. Jetzt schritt er mit Tante Harriet neben ihnen, und sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu.
Inzwischen waren sie die letzte Treppe hochgegangen und folgten dem Strom der Gäste. Sie durchquerten die verschiedenen Säle, in denen das Fest stattfand, und langten schließlich in der Galerie an, einem riesigen Raum mit Spiegeln, Kandelabern und Kronleuchtern.
Seth spürte einen Ellenbogen in der Seite.
«Da kommen sie», flüsterte Johan aufgeregt, aber da sah Seth schon selbst Beatrice und ihre Familie. Schweigend ließ er den Blick über die Frau gleiten, die er auf dem Eis des Nybroviken geküsst hatte. Ihr hellblaues Kleid war mit Silberfäden und glitzernden Steinen übersät, die bei jedem Schritt funkelten. Sie glühte vor Leben, und im Vergleich zu ihr wirkte jede andere Frau im Ballsaal gewöhnlich und seelenlos.
Seth stieß seinen Freund an. «Du beeilst dich wohl besser, Stjerneskanz», sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf die beiden Frauen. Sofia mit ihrer zerbrechlichen Schönheit würde höchstwahrscheinlich die Sensa tion des Balles abgeben, sie rief jetzt schon einiges Aufsehen und Gemurmel hervor. Doch Johan brauchte die Aufforderung nicht, und Seth folgte in seinem Kielwasser, wobei nicht zu übersehen war, dass er Anspruch auf die faszinierende Rothaarige zu erheben gedachte, die sich lächelnd umsah und den Blick ihrer intelligenten Augen durch den Saal schweifen ließ.
Als Beatrice ihn entdeckte, versetzte es ihr einen Stich. Seine Augen glitten mit unverhohlener Bewunderung über sie. Sie lächelte und hoffte, dass ihr nicht anzusehen war, dass ihr das Herz plötzlich dreimal so schnell in der Brust schlug.
«Fräulein Löwenström», begrüßte er sie förmlich, als er
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