Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
in ihrem nougatfarbenen Kleid ungewöhnlich hübsch aus, und Beatrice fiel auf, dass die Engländerin überhaupt nicht so alt war, wie es manchmal den Anschein hatte. Die Gesellschafterin bedachte den Pfarrer mit einem Lächeln, und in den Augen des Norwegers glomm etwas auf, was Beatrice verriet, dass er – trotz seines Berufs und seiner Berufung – nicht gegen den Zauber weiblicher Aufmerksamkeiten gefeit war.
Die restlichen Gäste trafen ein, und der Geräuschpegel stieg. Als Seth eintrat, gab er Iris rasch einen Kuss auf die Wange und ging dann zu Beatrice. Er verbeugte sich, sie knickste. Sie wünschte, sie hätte eines ihrer neuen Abendkleider dabeigehabt. Aber die waren viel zu fein für ein Wochenende auf dem Land, daher hatte sie stattdessen nur das einzige einfachere Kleid aus ihrer Garderobe eingepackt, das nicht braun oder schwarz war – ein dunkelgrünes Samtkleid. Sie setzte sich auf den Stuhl, den Seth ihr zurechtgerückt hatte.
«Danke», sagte sie leise.
«Bitte sehr», flüsterte er zurück, und seine Stimme war weich wie eine Liebkosung.
Als er sich neben sie setzte, war es, als würde er alle Luft und Energie, die um sie herum war, an sich reißen. Das Esszimmer war groß und luftig, doch er ließ den Raum schrumpfen und dominierte ihn mit seiner Größe, sodass es ihr fast den Atem verschlug. Glücklicherweise nahm Milla an seiner anderen Seite Platz und begann von Pferden, Schnee und Kindern zu reden, was Beatrice die Möglichkeit gab, sich zu sammeln, bevor sie sich völlig lächerlich machte.
Die anderen Gäste hatten sich nach Iris’ Anweisungen am Tisch verteilt. Die Gastgeberin unterhielt sich mit Sofia, während Johan seiner Mutter den Stuhl zurechtrückte. Seths kleiner Bruder stand neben Gabriella Stjerneskanz, und neugierig beobachtete Beatrice das jüngste der drei Stjerneskanz-Geschwister. Die Vierzehnjährige trug ein weißes Kleid und sah mit ihren blonden Korkenzieherlocken und den himmelblauen Augen sehr niedlich aus. Doch irgendwann konnte Beatrice sich nicht mehr ablenken. Was passierte hier eigentlich? Sie wusste, dass es jede Menge Männer gab, die junge Frauen verführten, nur um sie anschließend sitzenzulassen. Und Seth stand in dem Ruf, rücksichtslos zu sein, jedenfalls wenn sie den Zeitungen glauben sollte, die sie sich aus dem Arbeitszimmer ihres Onkels heimlich genommen hatte. Ein langer Artikel hatte sich mit der neuen Elite beschäftigt, den immer reicheren Bürgern, die eine ernsthafte Herausforderung für die Aristokratie und die alten Machtstrukturen darstellten. Darin war Seth als ein Risikokapitalist beschrieben worden, der seine Erfolge auf dem Misserfolg anderer aufbaute. Und es hieß auch, dass sich sein Vermögen auf fast eine Viertelmillion schwedische Kronen belief. Sie senkte den Kopf. Das war so viel Geld, dass es außerhalb ihres Vorstellungsvermögens lag. Ihr Vater hatte achttausend Kronen im Jahr verdient, und das war schon ein gutes Einkommen gewesen. Nicht, dass davon viel übrig geblieben wäre, aber trotzdem. Als sie aufblickte, hörte sie Seth gerade mit Milla lachen. Iris sorgte dafür, dass der erste Gang serviert wurde, und Ludvig tätschelte Sofia die Hand. Johan neckte seine jüngste Schwester, die daraufhin so sehr lachen musste, dass ihr die Luft wegblieb. In Beatrices Augen war die Familie Stjerneskanz eine durch und durch rechtschaffene Familie – sie würde doch sicher keinen Umgang mit Seth pflegen, wenn er tatsächlich ein schlechter Mensch wäre? Karin schien so eine hohe Meinung von ihm zu haben. Und ein Mann, der sich ganz offen um seinen unehelichen Bruder kümmerte, kam ihr nicht gerade vor wie eine rücksichtslose Person. Er …
«Eine junge Dame hat mich einmal darauf hingewiesen, dass es zum guten Ton gehört, zumindest so zu tun, als fände man die Gesellschaft seines Gegenübers angenehm», riss Seth sie aus ihren Überlegungen, und Beatrice blinzelte, als seine tiefe Stimme, das Gelächter der Gäste und das Knistern des Feuers sie wieder in die Gegenwart zurückholten. Sie sah zu ihm hin, und er hielt ihren Blick fest. In seinen grauen Augen tanzten silberne Fünkchen. «Sie sehen so ernst aus», sagte er. «Woran denken Sie?»
«Verzeihung, ich war in Gedanken», sagte sie leichthin und gewann etwas Zeit, indem sie die Serviette auf den Schoß legte und abwartete, dass das Dienstmädchen ihr Suppe auf den Teller schöpfte. Auf dem Löffel prangte das Monogramm der Familie Stjerneskanz, genauso wie auf
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