Ein Vampir ist nicht genug - Roman
Teil des Raumes, der am weitesten von der Leiter entfernt lag.
Ich entdeckte sie, bevor sie mich sah, und obwohl ich mich sofort in einen schmalen Alkoven zurückzog, wusste ich, dass sie mich nicht übersehen würde, sobald sie wusste, wonach sie suchen musste. Die Tor-al-Degan sah mit kalten, toten Augen auf die Welt, die in mir ein Gefühl wachriefen, das eine Antilope haben musste, die aus krokodilverseuchten Gewässern trank. Ihre Regenbogenhaut hatte die Farbe einer offenen Wunde und schwamm in einer eitrig-gelben Lederhaut. Ihr Blick ließ jeden der Akolyten, auf dem er zu ruhen kam, zittern und einen Schritt zurückweichen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm hätte standhalten können. Und nun verstand ich auch, warum in Cassandras alten Büchern nirgendwo ein Bild von
ihr auftauchte. Es war einfach schwierig, sie überhaupt zu sehen .
Es konnte an der Beleuchtung liegen, dem Flackern der Fackeln, die seltsame Schatten warfen, so dass man nur verwirrende Momentaufnahmen wahrnahm, die nie ein Gesamtbild ergaben. Nach diesen Augen erwartete ich nicht, auch nur einen Funken Schönheit an diesem Monster zu sehen, doch es zeigte sich ein fein geschnittener Wangenknochen und die weiche Rundung einer Schulter. Doch die Art, wie die Tor dann kurz verschwamm, konnte ich nicht mehr auf die Fackeln zurückführen. Ich blinzelte, presste die Lider fest zusammen, bis mir wieder einfiel, dass ich im Moment ja gar keine physischen Aug äpfel hatte.
Muss ganz schön hart sein, an verschiedenen Orten gleichzeitig zu existieren , dachte ich, als sie genug Konturen annahm, dass ich einen Fuß erkennen konnte - oh, würg, besser gesagt eine große, haarige Kralle. Sie schien sich zusammenzukrümmen, als wollte sie etwas schützen, das sie nah am Körper hielt, doch ich konnte nicht sagen, was es war, denn sie trug ein dunkles, weites Gewand, das viel verbarg. Dann drehte sie den Kopf, und ich bemerkte das netzartige Gewebe, das ihren Nacken mit etwas größerem verband, das sich unter dem Stoff auf ihrem Rücken bewegte, sich wand .
Wieder verblasste die Tor-al-Degan und wurde so durchsichtig wie japanisches Reispapier. Als sie ihren Kopf wieder der wartenden Menge zuwandte, begann diese sofort, sich hin und her zu wiegen und einen Gesang anzustimmen, was mich an die Schlangenbeschwörer erinnerte, die ich in Dokumentarfilmen gesehen hatte. Drei Frauen, alle Ende dreißig, alle frühzeitig ergraut, traten vor. Mit dem Rücken zur Menge fielen sie auf die Knie,
die mehrere Zentimeter tief im Dreck versanken. Der Rest der Gruppe bildete hinter ihnen einen Halbkreis und ging ebenfalls in die Knie. Ihre Hosenbeine verdunkelten sich, als sie die mysteriöse Flüssigkeit aufsaugten, die den Boden bedeckte. Während ich versuchte, ihre Zusammensetzung zu entschlüsseln, hörte ich Großmama Mays Stimme: Tja, das geht nie wieder raus, nicht mal mit Bleiche . Eigentlich war ich froh, sie zu hören. Diese ganze Situation war mir unheimlich. Vor allem, da ich vermutete, dass meine Opferung Teil des großen Finales sein sollte.
Die Augen der Tor kreisten in ihren Höhlen, als sie den Mund so weit öffnete, dass mit einem hörbaren Ploppen der Unterkiefer aus dem Gelenk sprang. Zwischen den spitzen Zähnen schoben sich riesige Fänge hervor, und sie spuckte eine klebrige weiße Masse auf die Zuschauer, die daraufhin zusammenzuckten und sich zurückzogen, ohne jedoch ihren Gesang zu unterbrechen. Dann warf die Tor den Kopf zur Seite und rammte ihre Zähne in die Wand. Welche Kraft sie bald entfalten würde, wurde deutlich, als sie ein Stück aus der bebenden Erde herausbiss und hässliche schwarze Narben zurückließ.
Sobald sie zu kauen begann, wurden ihre Konturen klarer, und ich erkannte, wie sie es geschafft hatte, so lange in diesem Zustand zu überleben. Sie ernährte sich nicht nur von unwilligen Seelen, sondern zehrte auch von der Erde selbst. Sollten unsere Ureinwohner Recht haben, würde sie so auch einige der Erdgeister in sich aufnehmen, die ihr zusätzliche Stärke verliehen. Auch wenn ich meinen Müll nicht auf den Boden schmeiße und dafür bekannt bin, hin und wieder eine Dose in die Recyclingtonne zu werfen, hatte ich mich nie für besonders umweltbewusst gehalten, zumindest nicht bis zu diesem Moment, als ich nur noch
die Narben sah, die sie bei ihrem stetigen Verzehr der guten Erde hinterlassen hatte.
Das reicht , dachte ich. Mehr muss ich nicht sehen. Mehr will ich nicht sehen .
Ich kehrte auf schnellstem Weg zu
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