Ein verhängnisvolles Versprechen
zog ein Sweatshirt über.
Er war immer noch leicht benebelt. Auf jeden Fall hatte er noch Restalkohol im Körper. Die Ironie blieb ihm nicht verborgen – er hatte Aimee aufgefordert, ihn anzurufen, damit sie nicht zu einem Betrunkenen ins Auto stieg, und jetzt war er selbst etwas angesäuselt. Er versuchte einzuschätzen, wie nüchtern er war. Er nahm an, dass er fahren konnte, aber glaubte das nicht jeder, der sich betrunken hinters Steuer setzte?
Er überlegte, ob er Win um Hilfe bitten sollte, doch der war anderweitig beschäftigt. Außerdem hatte Win auch getrunken, sogar mehr als Myron, obwohl er hinterher viel nüchterner gewirkt hatte. Trotzdem sollte er nicht so einfach losstürzen, oder?
Gute Frage.
Der Holzfußboden im Flur war ziemlich frisch renoviert. Myron beschloss, seine Nüchternheit kurz zu überprüfen. Er ging eine Diele entlang, als wäre es eine gerade Linie – als hätte die Polizei ihn herausgewinkt und zu einem Alkoholtest aufgefordert. Myron bestand, doch andererseits hatte er – bei aller Bescheidenheit – einen verdammt guten Gleichgewichtssinn. Wahrscheinlich hätte er den Test auch stockbesoffen bestanden.
Trotzdem hatte er keine Wahl. Selbst wenn er um diese Zeit noch einen anderen Fahrer gefunden hätte, wie würde Aimee reagieren, wenn er mit einem Fremden auftauchte? Schließlich hatte er, Myron, ihr das Versprechen abgenötigt, ihn anzurufen, wenn sie in eine solche Lage geriet. Er hatte ihr die Karte mit all seinen Telefonnummern in die Hand gedrückt. Und er hatte ihr, wie Aimee noch einmal betont hatte, absolute Vertraulichkeit versprochen.
Er musste selbst fahren.
Sein Wagen stand im bewachten Parkhaus an der 70th Street. Das Tor war verschlossen. Myron klingelte. Der Wächter drückte widerwillig den Knopf, und das Tor fuhr hoch.
Myron war nie ein großer Autonarr gewesen, daher fuhr er immer noch einen Ford Taurus, den er »Aufreißerkutsche« getauft hatte. Ein Auto brachte einen von A nach B. Punkt. Wichtiger als Leistung und ein V6-Motor war ihm, dass er das Radio direkt am Lenkrad bedienen konnte, um schnell die Sender wechseln zu können.
Er rief Aimee auf dem Handy zurück. Sie antwortete leise.
»Hallo?«
»Ich bin unterwegs.«
Aimee sagte nichts.
»Bleib doch einfach dran«, sagte er. »Dann weiß ich, dass alles okay ist.«
»Der Akku ist fast leer. Ich will ihn nicht ganz leer machen.«
»Ich müsste eigentlich in zehn Minuten, spätestens in einer Viertelstunde da sein«, sagte Myron.
»Aus Livingston?«
»Ich war in der Stadt.«
»Oh, das ist gut. Dann bis gleich.«
Sie unterbrach die Verbindung. Myron sah auf die Autouhr. 2:30 Uhr. Aimees Eltern mussten krank vor Sorge sein. Er hoffte, dass sie Claire und Erik schon angerufen hatte, überlegte dann aber noch, ob er selbst anrufen sollte – nein, so lief das nicht. Er würde sie bitten, ihre Eltern anzurufen, sobald sie in den Wagen stieg.
Aimee war, wie er überrascht zur Kenntnis genommen hatte, in Midtown Manhattan. Sie hatte gesagt, dass sie an der 5th Avenue Ecke 54th Street auf ihn wartete. Das war direkt am Rockefeller Center. Das Seltsame daran war nicht, dass ein achtzehnjähriges Mädchen im Big Apple um die Häuser gezogen war, sondern dass sie in dieser Gegend unterwegs war. Midtown war nachts tot. In der Woche drängten sich hier die Geschäftsleute. Am Wochenende kamen die Touristen. Aber am Samstagabend war hier nichts los. New York mochte vielleicht »the City that never sleeps« sein, die 5th Avenue jedoch gönnte sich ein ausgiebiges Nickerchen.
Als er an der 5th Avenue Ecke 52nd Street vor einer Ampel hielt, klapperte der Türgriff, dann öffnete Aimee die Tür und setzte sich auf die Rückbank.
»Danke«, sagte sie.
»Alles in Ordnung?«
Hinter ihm antwortete eine dünne Stimme: »Mir geht’s gut.«
»Ich bin kein Chauffeur, Aimee. Komm setz dich nach vorn.«
Sie zögerte, setzte sich dann aber auf den Beifahrersitz. Als
sie die Tür geschlossen hatte, sah Myron sie an. Aimee blickte starr geradeaus durch die Windschutzscheibe. Wie die meisten Mädchen ihres Alters hatte sie zu viel Make-up aufgelegt. Junge Mädchen brauchen kein Make-up und erst recht nicht so viel. Ihre Augen waren leicht gerötet, und sie hatte fast waschbärartige Ringe darum. Sie trug typische Teenager-Kleidung, eine Art eng anliegenden, dünnen Schleier, den sie sich um den Körper gewickelt hatte – eine dreiundzwanzigjährige Frau würde so etwas selbst dann nicht mehr anziehen,
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