Ein verhängnisvolles Versprechen
Du klingst ein bisschen beunruhigt.«
Er wollte noch mehr sagen, aber wieder gingen ihm Aimees Worte, »Du hast versprochen, dass du meinen Eltern nichts erzählst«, durch den Kopf.
»Ach, es ist schon alles in Ordnung«, sagte Claire. »Aber jetzt muss ich erst mal los. Noch mal vielen Dank für das Empfehlungsschreiben.«
»Das war keine große Sache.«
»Das war extrem wichtig. Der Viert- und Siebtbeste aus ihrem Jahrgang hatten sich auch beworben, und die sind nicht genommen worden. Dein Brief war das Entscheidende.«
»Das bezweifle ich. Aimee ist eine tolle Kandidatin.«
»Schon möglich. Trotzdem vielen Dank.«
Im Hintergrund war ein Murren zu hören. Es klang nach Erik. Wieder hatte er Aimees Stimme im Ohr: »Im Moment läuft’s zwischen ihnen nicht so gut.« Myron überlegte, was er noch sagen oder fragen könnte, aber da hatte Claire schon aufgelegt.
Loren Muse hatte einen neuen Mordfall ergattert – es war sogar ein Doppelmord. Zwei Männer waren vor einem Nachtclub in East Orange erschossen worden. Gerüchten zufolge ging der Mord auf das Konto von John »The Ghost« Asselta, einem berüchtigten Auftragskiller, der auch noch hier aus der Gegend stammte. Die letzten Jahre war es ruhig um Asselta gewesen. Wenn er wieder hier war, würden sie in nächster Zeit genug zu tun bekommen.
Loren ging den Bericht des Ballistikers durch, als ihr privates Handy klingelte. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich: »Muse.«
»Rat mal, wer dran ist.«
Sie lächelte. »Lance Banner, alter Fuchs. Bist du das?«
»Klar doch.«
Banner arbeitete bei der Kriminalpolizei in Livingston, New Jersey, dem Vorort, in dem sie beide aufgewachsen waren.
»Was verschafft mir das Vergnügen?«
»Ermittelst du noch in der Sache mit der vermissten Katie Rochester?«
»Eigentlich nicht«, sagte sie.
»Warum nicht?«
»Erstens gibt es nicht den geringsten Hinweis auf Anwendung von Gewalt. Und zweitens ist Katie Rochester über achtzehn.«
»Aber gerade mal so.«
»Für das Gesetz spielt es keine Rolle, ob sie achtzehn oder achtzig ist. Darum haben wir auch nie offizielle Ermittlungen aufgenommen.«
»Und inoffizielle?«
»Ich habe mich mit einer gewissen Edna Skylar getroffen. Sie ist Ärztin am St. Barnabas.« Sie gab Ednas Geschichte in fast denselben Worten wieder, die sie auch ihrem Boss, County-Staatsanwalt Ed Steinberg, gegenüber gebraucht hatte. Steinberg hatte lange überlegt, bis er den erwarteten Entschluss gefällt hatte: »Wir haben nicht genug Leute, um so dünnen Hinweisen nachzugehen.«
Als sie fertig war, fragte Banner: »Wie bist du überhaupt zu dem Fall gekommen?«
»Na ja, eigentlich ist es ja wie gesagt gar kein Fall gewesen. Sie ist volljährig, es gab keine Anzeichen für Gewalt, du kennst das ja. Also war erst mal niemand zuständig. Aber dann hat ihr Vater, Dominick Rochester, in der Presse und im Fernsehen einen Riesenwirbel veranstaltet, was du ja vermutlich auch mitgekriegt hast; außerdem kennt er jemand, der jemand kennt, und so ist der Fall schließlich bei Steinberg gelandet …«
»Und danach dann bei dir.«
»Genau. Und bei mir bleibt er auch erst mal liegen.«
Lance Banner fragte: »Hast du zehn Minuten Zeit für mich?«
»Hast du von dem Doppelmord in East Orange gehört?«
»Hab ich.«
»Ich leite die Ermittlungen.«
»Also liegt was ganz oben auf deinem Schreibtisch.«
»So ist es.«
»Das hab ich mir schon gedacht«, sagte Banner. »Deshalb geb ich mich ja auch mit zehn Minuten zufrieden.«
»Wichtig?«, fragte sie.
»Sagen wir einfach …«, er machte eine Pause, dachte über ein Wort nach, »… sehr eigenartig.«
»Und es hat etwas mit Katie Rochesters Verschwinden zu tun?«
»Höchstens zehn Minuten, Loren. Mehr Zeit brauchen wir nicht. Ach was, mir reichen auch fünf.«
Sie sah auf die Uhr. »Wann?«
»Ich steh bei euch unten im Gebäude«, sagte er. »Kannst du uns einen Raum besorgen?«
»Für fünf Minuten? Verdammt, dann ist das doch kein Witz gewesen, was deine Frau von deinem Stehvermögen im Schlafzimmer erzählt hat.«
»Träum weiter, Muse. Hast du das Ping gehört? Ich steig gerade in den Fahrstuhl. Klär das mit dem Raum.«
Lance Banner von der Kriminalpolizei in Livingston hatte kurzgeschorene Haare. Er war kräftig gebaut und hatte ein kantiges Gesicht. Loren kannte ihn schon seit der Grundschule, und sie musste immer wieder daran denken, wie er damals ausgesehen hatte. So ist das mit Menschen, mit denen man aufgewachsen ist.
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