Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
kippte auch noch einen großzügigen Schluck Wein in das Chili. »Prost.« Sie hob die Flasche. »Und herzlichen Glückwunsch!«
»Danke.« Was hatte sie schon geleistet? Wahrscheinlich war sie einfach in die richtige Familie hineingeboren worden.
»Erzähl mir alles«, befahl Lisa.
Und Tess berichtete.
Sie hatte die Gegend um Cetaria gegoogelt und festgestellt, dass sie ein ideales Tauchrevier war. Das Dorf lag in der Nähe eines Nationalparks, der als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen und mit Stränden voller Felsen, weißem Sand und klarem, aquamarinblauem Wasser gesegnet war. Durch Vulkanausbrüche und Erdbeben hatten sich im Lauf der Jahre Höhlen mit Stalaktiten und Süßwasserquellen gebildet, und die Unterwasserwelt war angeblich spektakulär. Tess konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte immer am Meer gelebt und war immer gern geschwommen.
Sie erinnerte sich, wie sie als Kind am Strand ins Wasser gestarrt und die Augen zusammengekniffen hatte, um die Konturen des Meeresbodens zu erkennen. Unter Wasser schienen alle Farben lebendiger, realer zu sein. Pflanzenwedel und Tang tanzten und verschwammen vor ihren Augen und bewegten sich im Takt der Strömung, Seespinnen huschten über die kleinen Kiesel, und ab und zu glitten winzige Fische durch ihr Blickfeld wie Ölschlieren. Tess war fasziniert gewesen. Sie wollte unbedingt wissen, was sich unter den Felsen, Kieseln und dem Sand noch an Leben versteckte. Wie es wohl wäre, unter Wasser zu leben? Es war eine andere Welt. Hell, fließend und geheimnisvoll.
Als sie älter wurde, hatte sie bei Urlauben im Ausland oft geschnorchelt und sich dabei gewünscht, tiefer tauchen, mehr sehen zu können. Letztes Jahr hatte sie im Surfshop in Pridehaven dann Werbung für den PADI-Grundschein gesehen. Es war auf den Tag genau ein Jahr her, dass sie sich das erste Mal mit Robin getroffen hatte. Um ihren Jahrestag zu feiern, hatten sie ein romantisches Abendessen in einem Restaurant geplant, das in einem Sicherheitsabstand von fünfzehn Meilen außerhalb der Stadt lag. » Ich weiß, das ist schwer, Liebes, aber wollen wir Helen wirklich unnötig wehtun?« Aber dann hatte er sie versetzt und nur eine Stunde vorher abgesagt. Es war nicht das erste Mal gewesen, und es würde nicht das letzte Mal sein. »Ich mache das wieder gut, Tess«, hatte er gesagt, und sie hatte gedacht: Ich muss endlich etwas für mich selbst tun.
Sie hatte die Nummer für den Tauchkurs notiert. Man wusste schließlich nie …
Wie sich herausstellte, war der PADI-Kurs genau das, was sie brauchte. Zunächst wurden die Teilnehmer durch eine Reihe von Übungen im Schwimmbecken des Tauchcenters mit der Ausrüstung vertraut gemacht – Neoprenanzug, Maske, Sauerstoffflasche und Gewichtsgürtel. Sie trainierten die Sicherheitsmaßnahmen, lernten das Aufsteigen, den Gebrauch von Zeichensprache unter Wasser und die Benutzung von Dekompressionstabellen, und schließlich setzten sie ihr neu erworbenes Wissen im Meer um. Einige Teilnehmer stiegen aus, als der Kurs zu Ende war, doch Tess’ Begeisterung war ungebrochen. Sie hatte weitere Kurse besucht und schließlich den Fortgeschrittenen-Tauchschein gemacht.
»Aber was willst du denn damit, Schatz?«, hatte Robin sie gefragt, als müsse alles im Leben einen bestimmten Zweck erfüllen.
»Spaß haben«, gab sie zurück. »Allein in Tauchurlaub fahren. Mein Leben leben.«
Da hatte er den Mund gehalten. Was hätte er darauf auch sagen sollen? Er gab ihr nicht alles, was sie brauchte, daher musste sie sich anderswo umsehen. Und warum auch nicht? Wieso sollte man sein Lebensglück von einem einzigen Mann abhängig machen? Diese Lektion hatte sie gründlich gelernt, als David nach Australien gegangen war. Niemand würde ihr das noch einmal antun.
Aber das hier war kein Tauchurlaub. Für Tess war es eine Entdeckungsreise. Sie wollte sehen, wo ihre Mutter aufgewachsen war, vielleicht sogar herausfinden, warum sie fortgegangen und nie zurückgekehrt war. Sizilien. Der geheime Ort. Sie wollte das Haus sehen, das ihr wundersamerweise genau zum richtigen Zeitpunkt in den Schoß gefallen war. Wie würde es sein? Und was würde sie damit anfangen?
Aber ihr Glück wurde nicht nur dadurch getrübt, dass sie Ginny allein lassen musste. Sie musste auch an Muma denken, die sich das alles schrecklich zu Herzen nehmen würde. Das Wenige, was ihre Mutter im Lauf der Jahre über ihre Jugend in Sizilien erzählt hatte, war mehr zufällig über ihre Lippen gekommen. Es waren
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