Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
und einem T-Shirt. Sie war schwarzhaarig, zierlich und anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen. Heute Abend rührte sie mit einer Hand in einem riesigen Suppentopf mit Chili und dirigierte mit der anderen diverse Kinder zwischen sieben und elf. Tess sah ihr zu und dachte an ihre eigene Erfahrung mit Ginny zurück. Sie hatte sie ohne Mann großgezogen, als Einzelkind. Das war in vielerlei Hinsicht etwas ganz anderes gewesen.
»Tess.« Lisa hielt ihr die Wange zum Kuss hin. »Komm, setz dich.«
Lisas behagliche Küche mit ihrem würzigen Chiliduft und dem warmen Schein der ockerfarben gestrichenen Wände war so etwas wie ein sicherer Hafen. Seit Lisa und Mitch das Haus neben Tess’ leicht verwahrlosten viktorianischen Eckhaus bezogen und sie in ihren Freundeskreis aufgenommen hatten, hoffte Tess, diese Atmosphäre, die Lisa vollkommen mühelos heraufbeschwor, in sich aufnehmen und wieder abgeben zu können. Eine Atmosphäre des Zusammenseins mit Mann und Kindern, von Familie und einem Heim. Doch natürlich konnte sie das nicht. Wie sollte sie auch, wenn sie keinen Mitch hatte? Aber sollte sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Weil sie ihrer Tochter nicht alles geben konnte? Weil sie nicht in der Lage war, ihr einen Vater zu bieten? Nein. Denn vielleicht war das, was sie mit Ginny verband, diese besonders enge Beziehung, nur möglich, weil sie beide zusammen gegen den Rest der Welt standen.
»Ich bin sofort bei dir«, erklärte Lisa ihr. »Ich muss bloß noch …« Sie wandte sich an ihre Sprösslinge. »Sofort die Bücher vom Tisch, Leute, sonst gibt es kein Abendessen.«
Tess trat aus dem Weg, als sich sechs Hände ausstreckten, um sich Schulbücher, Mäppchen und alles andere zu schnappen, während die dazugehörigen Münder ohne Unterlass schnatterten. Hast du meinen schwarzen Textmarker? Wo ist mein Lineal? Das ist mein Radiergummi, Idiot. Sag nicht Idiot zu ihm.
Der letzte Satz kam von Lisa. Sie warf Tess ein entschuldigendes Lächeln zu. Ihre drei Kinder zusammen hatten bisweilen die Wucht eines Vulkans.
Apropos Vulkan, dachte Tess. Sie könnte mit Robin den Ätna besuchen. Und Palermo. Alte Tempel, Kathedralen, einsame Buchten, Sandstrände … Sie spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Durfte sie einfach eine Woche verschwinden und ihre Tochter hier allein lassen?
Ginnys Vater, ein freigeistiger, gitarrenspielender Surfer mit langen Gliedmaßen und Augen, die so blau waren wie das Wasser des Schwimmbads, in dem er als Rettungsschwimmer arbeitete, hatte nur die ersten sechs Monate von Tess’ Schwangerschaft durchgehalten. Dann war er nach Australien gegangen. Wie er sagte, konnte er keinen weiteren englischen Winter mehr ertragen. Er hatte Tess gebeten, mit ihm zu gehen. Aber für Tess war das Timing problematisch. In nur zwölf Wochen würde sie ein Kind auf die Welt bringen. David hatte vor der Wahl gestanden, seine Freundin zu verlassen oder sich dem englischen Winter auszusetzen, und er hatte sich gegen sie entschieden. Kein gutes Omen für die Zukunft.
Tess war froh darüber, dass Ginny den unabhängigen Charakter ihres Vaters geerbt hatte. Aber ihre Tochter wurde geradezu furchteinflößend schnell erwachsen, und es standen so viele schwierige Entscheidungen an. So vieles konnte schiefgehen. Tess hatte Angst, dass Ginny sich dabei auch von ihr entfernte. Sie sah zu, wie Lisas Kinder sich um ihre Mutter scharten. Werd nicht so schnell erwachsen …
»Ich bin beschäftigt, Freddie«, sagte Lisa gerade zu ihrem Ältesten. »Mach deine Hausaufgaben nebenan, oder schau vor dem Essen eine DVD, und wir erledigen das dann später.«
»Das sagst du immer«, murrte Freddie. Aber er grinste Tess zu, schnappte sich aus der Obstschale auf dem Tisch eine Orange und zog dann fröhlich ab.
»Und sieh zu, dass es etwas ist, das die Kleinen auch sehen dürfen!«, rief Lisa ihm nach und scheuchte ihre beiden Töchter hinter ihm her. »Ich will mich mit Tess unterhalten.«
Tess küsste die Mädchen, beide absolut anbetungswürdige Kleinausgaben ihrer Mutter, und zog sich den nächstbesten Küchenstuhl heran. Sie war so aufgedreht, dass sie fast platzte. Es würde wirklich passieren. Sie war eine Frau mit Eigentum. In Sizilien. Und sie würde hinfliegen – mit Robin.
Lisa stellte ein Glas vor sie hin.
»Danke.« Der Kaffee hatte sich auf geheimnisvolle Weise in Rotwein verwandelt, aber Tess erhob keine Einwände.
»Ich bin schon mal zum Alkohol übergegangen.« Lisa füllte ihr eigenes Glas und
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