Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
ziehen und ihre Tomatensauce herstellen konnte (»die wichtigste häusliche Arbeit des Jahres, Kind«), ihre Marmelade, ihr Olivenöl, ihr … Puuuh! Flavia schob ihr schweres, dichtes Haar zurück, unter dem sie noch mehr schwitzte. Am liebsten hätte sie laut geschrien …
Es reichte. Sie richtete sich auf. Über den grünen und rostroten Bergebenen, auf denen Pinien und Zypressen standen, Olivenhaine, Weingärten und ab und zu eine Hütte aus Kalkstein, hing, so weit sie sehen konnte, ein Hitzeschleier. Er hatte eine Farbe – Purpurgrau – und einen Klang, ein helles Sirren. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und schickte das Sirren mit einem lauten Ruf wieder in die weite Landschaft zurück: »Hiiiii.«
Am Himmel stand keine Wolke. Sie roch nichts außer dem harten, trockenen, »grünen« Geruch von Tomaten. Sie spitzte die Ohren, um das Meer zu hören. Aber es lag auf der anderen Seite der Villa und ihres Häuschens, und alles, was sie außer dem Sirren wahrnahm, war das Brummen der Insekten, ein unaufhörliches Summen. Es konnte einen geradezu verrückt machen.
Heute Morgen war sie mit dem Gefühl aufgewacht, dass etwas passiert war. Doch als sie aus dem Bett stieg und aus dem Fenster spähte, sah draußen alles aus wie immer. Der rosige Schein der Morgendämmerung konzentrierte sich bereits zu einem sinnlicheren, stärkeren Licht. Aber sie wusste es, sie wusste es einfach.
»Hey!«
Flavia zuckte zusammen.
»Du träumst schon wieder mit offenen Augen!«, rief ihre Schwester Maria ihr zu. Auf die überlegene Art einer älteren Schwester, die sie im Lauf der Jahre perfektioniert hatte, schnalzte sie mit der Zunge und wies auf Flavias noch halb leeren Korb. »Komm weiter, schnell!«
»Komm weiter, schnell«, murrte Flavia halblaut. Wieder eine Ernte, noch ein Jahr, das aus Arbeit und Warten bestand. Worauf wartete sie? Dass ein junger Mann aus dem Dorf Anspruch auf sie erhob?
Sie ging weiter zur nächsten Pflanze. Achtlos riss sie die Früchte von den stachligen Stängeln. Wie die Bartstoppeln eines alten Mannes, dachte sie. Wie bei dem alten Luciano, der oben auf den Berghängen die Ziegen hütete. Der herbe Geruch der von der Sonne erhitzten Tomaten war ihr in die Nase, in die Kehle und in den Bauch gekrochen. Denk daran, nur die reifen Früchte.
Es gab nicht mehr als zwei oder drei junge Männer zur Auswahl. Nicht, dass sie eine Wahl treffen durfte. Und wer würde sich schon für sie entscheiden, wenn sie nicht, wie Mama ihr zu verstehen gab, lernte, »ihre Zunge zu zügeln«. Sie war zu eigenständig, zu dickköpfig. »Spar dir dein Feuer auf«, pflegte Mama zu sagen und meinte damit, bis sie verheiratet war. Denn dann, als Vorstand ihrer Familie, hatte sie das Sagen. Heiliger Jesus! Ohne dass sie es bemerkte, schlossen sich ihre Finger zu fest um die Frucht, und sie spürte, wie die Haut platzte und das Innere über ihre Finger quoll. Sie hob die Finger an die Lippen, saugte die Tomate aus und warf die Haut auf den staubigen Boden.
»Tsss!« Maria entging aber auch nichts.
Flavia streckte ihr die Zunge heraus und ging weiter zur nächsten Pflanze. Sie wusste, wen ihre Schwester wollte. Leonardo Rossi. Das wusste sie, weil sie die Sprache der Augen verstand, die nur jemand mit so einer geschärften Beobachtungsgabe, wie Flavia sie besaß, wahrnahm. Sie hatte gesehen, wie die beiden einander in der Kirche anschauten. Wo sollten sie es auch sonst tun? Nur in der Kirche durften junge Mädchen anderen Leuten begegnen. Und selbst dann musste man den Blick niederschlagen und vor allem sittsam sein. Pah!
Flavia reckte sich. Sie war erst siebzehn; daher waren ihr Rücken und ihre Schultern noch gesund und biegsam. Aber sie begriff, warum die alten Frauen so graue Gesichter hatten, so gebeugt gingen und so verbraucht waren. Ein Grund war das Tomatenpflücken.
Also, was war passiert? Sie versuchte, sich zu erinnern. In der Nacht war sie aufgewacht, einmal nur, und hatte in der Finsternis ein Geräusch gehört, so etwas wie ein Krachen in nicht allzu großer Entfernung. Und Lichter gesehen, Suchscheinwerfer vielleicht, die den Nachthimmel aufrissen.
Sie ließ den Blick auf der Villa Sirena ruhen, die sich in ihrem dunklen Rosa über dem baglio und der Bucht erhob, die Villa, die Edward Westerman gehörte, dem exzentrischen englischen Poeten. Ihm gehörten auch die Olivenbäume, die sie abernteten, die Tomatenpflanzen, die ihre Mutter und ihr Vater pflegten, und sogar das kleine Steinhaus gleich hinter
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