Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Insel seit Jahrhunderten von Erdbeben oder Vulkanausbrüchen geplagt wurde und immer wieder von marodierenden Stämmen erobert worden war, die Sizilianer so ergeben, so zufrieden mit ihrem Los. War es Zufall, dass es in der sizilianischen Sprache kein Futur gab? Die Sizilianer konnten nur zurückblicken, niemals hoffnungsvoll nach vorne, in die Zukunft.
Flavia wandte ihr Gesicht der heißen Sonne zu. Hatten sie keine Zukunft? Man erzählte sich, dass in Palermo faschistische Slogans in Fenstern hingen: Besser einen Tag wie ein Löwe leben als hundert Jahre wie ein Schaf. Aber Papa sagte, solche Worte seien an die Sizilianer verschwendet. Mit Ehre kannten sie sich aus, da machte ihnen keiner etwas vor. Aber was ging sie der Krieg an? Es war nicht ihr Krieg. Alles, was sie interessierte, war ihr Überleben. Außerdem mochte ihre Familie die Engländer, und sie waren Signor Westerman, dem sie so viel zu verdanken hatten, treu ergeben. Sie hatten all seine Sachen aus dem Haus gebracht und versteckt; jedenfalls alle wertvollen, darunter auch Il tesoro, den Schatz, der sich an einem Ort befand, an dem ihn niemand jemals finden würde, an dem niemand auch nur auf die Idee käme, ihn zu suchen. Sie hatte gehört, wie Papa das zu Santinas Vater gesagt hatte. Er hatte nicht gewusst, dass sie hinter dem Vorhang stand und lauschte.
Flavia zuckte mit den Schultern. Na und? Was bedeutete ihr das schon – all diese Intrigen, das ganze Flüstern über die neuesten Ereignisse, Feinde und Wertsachen, die versteckt werden mussten? Sie hatte gute Erinnerungen an Signor Westerman; nicht nur, weil er immer freundlich zu ihr gewesen war, sondern auch, weil er sie früher oft, wenn sie eigentlich Mama helfen sollte, zu sich gerufen und ihr Geschichten über England erzählt und ihr Gedichte vorgelesen hatte. Er las sie laut vor, in einer Sprache, die sie nicht verstand, aber sie hörte, wie die Worte tanzten, und konnte die Augen schließen und träumen.
In einer Mischung aus Englisch und Italienisch, die für sie nur schwer zu verstehen war, erzählte er ihr von den Dichtern und von England, seiner Heimat. Aber sie verstand genug, um zu erkennen, dass das Leben dort ganz anders aussah, so anders, dass man es sich kaum vorstellen konnte. Aber Flavia versuchte es. Dort gingen Mädchen zum Tanz, sie durften frei sprechen, sie durften ausgehen, alleine oder sogar mit Männern, und sie überlebten es. Heilige Mutter Gottes, und wie sie lebten!
»Lass mal sehen.« Maria stand nun neben ihr und inspizierte ihren Korb. Was würde ihre Schwester jetzt tun, nachdem ihr Liebster das Dorf verlassen hatte? Er war nicht in den Krieg gezogen, sondern davongelaufen. Er versteckte sich in den Bergen, jedenfalls erzählten die Leute sich das. Manche nannten diese jungen Männer Deserteure – diese Männer, die in verlassenen Häusern und Höhlen in der Gegend schliefen und vom Schwarzmarktgeschäft mit Getreide und gestohlenem Vieh lebten. Die meisten sahen darin nichts Verwerfliches. Aber was sollte werden, wenn er nicht zurückkam?
Und wenn der Krieg vorbei war? Was war dann? Selbst wenn einer der jungen Männer, die den Krieg überlebt hatten, sie zur Frau nahm, was für ein Leben würde sie dann führen? Ein Leben wie Mama – wenn sie Glück hatte. Kochen, Putzen, Kinderkriegen. Stumpfsinnige Plackerei. Für alle Ewigkeit ans Haus gefesselt. Nur in die Kirche und auf den Markt würde sie gehen dürfen. Uhhh …
»Du bist mit deinen Gedanken ständig in einer anderen Welt«, schimpfte Maria. »Was ist bloß los mit dir? Das ist unser Essen, unser Leben.«
Flavia schwang ihren Korb herum. Unser Essen. Unser Leben. War es so falsch, sich mehr als das zu wünschen?
Nach dem Mittagessen wollte Flavia Siesta halten, kam aber nicht zur Ruhe. Das weiße Licht des frühen Nachmittags stach ihr in Augen und Schläfen, und sie warf sich ruhelos auf ihrem Bett hin und her. Was war das? Lag es nur an der Julihitze, oder …?
Sie stand auf, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und ging nach unten. Alles war ruhig. Es war, als schliefe die ganze Welt, aber es war die Art von Ruhe, wie sie vor einem Sturm herrscht.
Sie beschattete die Augen mit der Hand und trat durch die groben Vorhänge aus der Tür. Im Küchengarten war die Erde trocken und hart, aber die dicken Bohnen, Artischocken und Erbsen gediehen; dafür sorgte Mama. Solange sie ein Stück Land hatten, würden sie genug zu essen haben. Und aus der Ernte gewannen sie die Saat für das nächste
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