Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
füllen: meinem neuen Ich, dem Menschen, der ich gerne wäre. Eigenständig, ehrgeizig, unberechenbar, ja, unvergesslich sogar. Aber mir fehlte das Selbstbewusstsein, wirklich dieser Mensch zu sein. Also füllte ich ihn stattdessen mit meinen Traumkleidern, in Erwartung jenes Tages, an dem ich so weit sein würde, sie tatsächlich auch zu tragen.
»Meinst du, du bist jetzt wirklich so weit?«, meint Delilah schließlich. Ich nicke bedächtig. Aber eigentlich bin ich noch nicht so weit. Und werde es wohl auch vermutlich nie sein. Das alles ist bloß ein verzweifelter Versuch, anders zu sein, weil ich die Nase voll davon habe, ich selbst zu sein. Was ich mir als Ansporn noch mal in Erinnerung rufe, um dann tief durchzuatmen, aufzustehen und entschlossen zu dem Schrank zu gehen. Behutsam lege ich die Hand auf den Schlüssel und drehe ihn dann langsam im Schloss. Ich schließe die Augen, öffne die Tür, und dann schlage ich die Augen wieder auf.
Drinnen erwartet mich eine Reihe makelloser Vintage-Stücke, die ich im Laufe der vergangenen beiden Jahre mit größter Hingabe und Sorgfalt zusammengetragen habe. Allesamt ungetragen und in einer schützenden Plastikhülle, jedes einzelne davon dieVerkörperung jener Frau, die ich gerne wäre. Vintage-Kleidung ist anders: Das sind Originale. Sie haben eine Geschichte, eine Art Zauber, der sie umgibt. Und vor allem finde ich es wunderbar, dass diese Kleider bereits schon einmal ein anderes Leben geführt haben. Mir gefällt der Gedanke, etwas von diesem Leben könne auf mich abfärben. Dazu brauche ich sie gar nicht zu tragen. Nachdem ich sie erstanden habe, lasse ich sie erst mal reinigen – ein kleiner Luxus, den ich mir gönne –, und dann werden sie in den Schrank gesperrt. Alltagstauglich wären sie für mich sowieso nicht. Mein Arbeitsplatz ist ein Warenlager, und abends kümmere ich mich um Delilahs Kinder, da wären solche Kleider nicht gerade praktisch. Aber trotzdem habe ich munter immer weiter neue Schätzchen erstanden. Aus jedem Modejahrzehnt, das ich vergöttere, ist etwas da: ein silbrig weißes Zwanziger-Jahre-Charlestonkleid mit aufgestickten Perlen; ein schimmerndes schräg geschnittenes bodenlanges Satinkleid aus den Dreißigern in Beige, Zartrosa und Austerngrau, das ich noch mit einer um den Kleiderbügel drapierten Kunstpelzstola und einer Perlenkette aufgepeppt habe. Dann wäre da ein traumschönes Teekleid mit Blümchenmuster aus den vierziger Jahren; pastellfarbene Abschlussballkleider mit Korsage und mehreren Lagen Tüll; Bleistiftröcke und perfekt geschneiderte Hosen, Seidenblusen in wunderbar satten Farben und Berge entzückender bunter Etuikleidchen aus den Sechzigern.
Im Laufe der vergangenen zwei Jahre ist aus diesen Kleidern meine ganz eigene, beinahe unbezahlbare Kunstsammlung geworden. Sie hängen in meinem Kleiderschrank, perfekt nach Farbe, Stil und Länge geordnet, doch nie nimmt jemand sie vom Bügel oder aus der Plastikhülle. Sie sind nur dazu da, mir beim Betrachten Freude zu bereiten.
»Wow«, raunt Delilah atemlos, als sie die Stange voller glänzender transparenter Plastiksäcke vor unserer Nase sieht. »Darf ich mir ein paar davon ansehen?«
Ich schnappe entsetzt nach Luft. Auch wenn Delilah immer schon um die Existenz des Schranks wusste, habe ich ihr nie die Schätze gezeigt, die ich darin hütete. Immer habe ich sie gleich weggeschlossen, sobald ich sie wie eine wertvolle Beute nach Hause geschleppt hatte, sodass sie nie die Gelegenheit bekam, einen Blick darauf zu werfen. Sie hat gebittet und gebettelt, aber ich war immer streng darauf bedacht, mein kleines Geheimnis zu hüten. Sie irgendwem zu zeigen kam mir vor wie der Versuch, jemandem nach dem Aufwachen von seinem Traum zu erzählen; einem selbst mag es tiefgründig und bedeutsam und sehr persönlich scheinen, aber jeder andere fände es nur langweilig oder absonderlich.
Aber heute ist alles anders. Mir ist klar geworden, wenn ich tatsächlich vorgeben will, eine modebewusste, bildschöne Einkaufsberaterin zu sein, dann sind diese Klamotten meine einzige Hoffnung. Carlys Designerfummel kann ich mir nicht leisten, und außerdem sähen sie lächerlich aus an mir. Ich finde es toll, dass jedes dieser Kleidungsstücke mir das Gefühl gibt, es sei nur für mich gemacht worden, so wie sie meine Taille betonen, meine Hüften kaschieren und jede meiner Kurven umschmeicheln. Ich mag zwar vorgeben, Carly zu sein, aber ganz tief in meinem Innersten wünsche ich mir, dass Joel
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