Ein weites Feld
Schacht ohne Ausweg war. Dann hob er den Blick bis zu den Flachdächern. Immerhin gab es den Himmel über der Treuhand. Nach dem Lüften lief der freie Mitarbeiter Theo Wuttke eine gute Wegstrecke auf seinem Teppich ab. Wir nehmen an, daß er beim Blick in den Hof und in den Aprilhimmel, dann auf dem Teppich und später am Schreibtisch versucht hat, ohne Stift und Papier die Linie eines Gemmengesichts nachzuzeichnen, das ihm reizvoll zu sein schien.
Mit der Nachfolgerin des ermordeten Chefs kam ein neuer Ton ins Haus. Das Volkseigentum wurde zügiger und in schärferer Gangart abgewickelt: Was mal Osten gewesen war, ging Stück für Stück in westlichen Besitz über – der nannte sich privat –, und nur die Schulden, für die niemand zu haben war, blieben bei der Treuhand liegen. Die Chefin sorgte für gute Stimmung durch Anreiz, denn für rasch vollzogenes Abwickeln wurden satte Prämien ausgezahlt. Viele Umstände machte man nicht mehr, jeder beeilte sich, und auch was den inneren Betrieb betraf, mußte, was anlag, vom Tisch. So kam es, daß Fontys historisch abgestufte Denkschrift, die dem wiederholt genutzten Gebäude galt und deren Begutachtung durch den vormaligen Chef so lange hinausgezögert worden war, endlich zur Vorlage kam und sogleich abgelehnt wurde. Nicht die Chefin persönlich hatte den Entscheid gegengezeichnet; das war Sache eines ihrer Herren gewesen. In kurzer Begründung hieß es: Die insgesamt gründliche Studie sei zu sehr vergangenheitsbezogen. Ihr fehle die positive Ausrichtung auf zukünftige Entwicklung. So verdienstvoll die historischen Perioden herausgearbeitet worden seien, gehe es dennoch nicht an, daß diese gleichrangig mit der dritten Nutzungsstufe des Gebäudes in Beziehung gesetzt stünden. Von Kontinuität zu sprechen, sei fahrlässig, wenn man nicht berücksichtige, daß nunmehr die Marktwirtschaft Priorität beweise. Im übrigen sei die Einbeziehung des Paternosters in die vorliegende Schrift zwar originell, doch werde hier, besonders bei der Darstellung des Transports von hochrangigen Personen, ein Gleichheitsprinzip angewendet, das angesichts der nun herrschenden freiheitlichen Grundordnung nicht gelten dürfe; zudem gebiete der tragische, durch feigen Mord verursachte Tod des letzten Vorsitzenden der Treuhandanstalt in hohem Maße Respekt; der insgesamt ironische Stil verzerre nur und lasse erwünschte Achtung vor höheren Werten vermissen.
Nach Aufzählung aller Verdienste des ermordeten Chefs und dem Hinweis, daß zukünftig das Gebäude an der ehemaligen Wilhelmstraße den Namen dieses außerordentlichen Mannes tragen werde, stand zu lesen: »Zu gegebener Zeit werden wir auf Ihre insgesamt interessante Studie, zwecks Verwendung in anderer Form, zurückkommen …« Fonty war ohne Arbeit, doch blieb ihm das Zimmer. Nach Jena schrieb er: »Weiß nun, wie die Zensur nach westlicher Maßgabe arbeitet. Sitze seitdem meine Stunden ab. Es ist wie in Hesekiels Kreuzzeitung oder in Merckels Centralstelle. Und dem ständigen Sekretär der Preußischen Akademie blieb gleichfalls nur abwartendes Däumchendrehen …« Ähnlich bitter klagte er seinem Sohn, dem Verleger: »Mein lieber Friedel! Könnte Dir neuerdings meine hier auf subtilste Weise zensierte Denkschrift anbieten. Fände als englische Broschur bestimmt ihre Leser. Doch sehe ich ein, daß es fürchterlich wäre, wenn die gesunde Basis eines Verlagsbetriebs ein bücherschreibender Vater sein müßte. Verlege Du weiterhin Deine Herrnhuter, wie ich für die Schublade fleißig bleiben werde …« Und weitere Briefe, weil anderes nicht zu tun war, doch fiel seine Untätigkeit nicht auf Und fast schien es so, als hätte man den freien Mitarbeiter Theo Wuttke vergessen, da fand er eines Tages in seinem Dienstzimmer einen Blumentopf auf dem wie leergefegten Schreibtisch: Geranien in voller Blüte. Tags drauf kam eine besondere Art Immergrün dazu. Nach quälend langem Wochenende stand am Montag als neues Möbel ein Blumenständer neben dem Schreibtisch, darauf, zu den anderen Topfpflanzen gestellt, ein dritter Blumentopf: Begonien.
Bald waren wir mit seinem blühenden oder nur tankenden Zimmerschmuck vertraut. Fonty hat uns den Blumenständer als »Etagere« beschrieben. Bei einem Besuch im Archiv sagte er: »Eine kolossal praktische Erfindung! In Form einer Wendeltreppe sind immer kürzer werdende Stufen in Rechtsdrehung um einen meterhohen Ständer geführt, alle ordentlich verdübelt und durch Winkeleisen gestützt. Sechs
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