Ein wildes Herz
Farmen. Die verlassen sie nie. Vielleicht ist das ihre Religion. Vielleicht sind die Leute auch nur einfach gern für sich. Alles, was Sylvan weiß, das hat sie aus dem Radio und, in den letzten Jahren, aus dem Kino.«
»Sie ist schön«, sagte Charlie und warf einen verstohlenen
Blick zu Harrison hinüber, der laut lachte, während Sylvan still an seiner Seite stand.
»Sagen Sie das nicht zu laut«, warnte Will. »Boaty Glass würde Ihnen das Ohr abschneiden, ehe Sie sich’s versehen. Er war mal ein guter Kerl, mein bester Freund, aber jetzt ist er ein böser Mann mit einer Menge Geld, der aufbrausend und unberechenbar sein kann.«
Charlie stand auf. »Komm, Sam, lass uns Mr. und Mrs. Glass Hallo sagen.«
Er nahm den Jungen an der Hand, und sie gingen zu dem Paar hinüber. Charlie schüttelte schüchtern Boatys Hand. Dann schüttelte auch Sam sie.
Sylvan wandte sich ihm zu, nahm ihre Sonnenbrille ab, sodass ihre grünen Augen im Sonnenlicht aufblitzten, und dann gab sie ihnen auch die Hand, zuerst dem Jungen, dann Charlie, ohne ein Wort. Doch man sah an der Art und Weise, wie Charlie seine Hand einen Moment lang in der Luft schweben ließ, nachdem sie sich begrüßt hatten, dass doch etwas gesagt worden war, als würden sie sich schon länger kennen. So als wäre all das, was zwischen ihnen vorfallen würde, längst geschehen.
Wäre es Winter gewesen, hätte es vielleicht einen statischen Funken gegeben, etwas Sichtbares, aber dazu war es zu warm. Es war etwas gesagt worden, doch sie war die Einzige, die wusste, was.
Charlie ließ die Hand noch einen Moment lang in der Luft schweben, einen langen Moment, sah das letzte Flackern ihres Blicks, ehe sie die Sonnenbrille wieder aufsetzte, und dann steckte er die Hand in die Tasche, um sich die Wärme ihrer kurzen Berührung zu bewahren. Er nickte, zuerst in ihre Richtung, dann in die ihres Mannes, anschließend kehrten er und der Junge an ihre Plätze zurück.
»Sie riecht gut, Mama«, sagte der Junge. »Als würde sie eine Menge Geld kosten.«
Es war später Nachmittag, als er sie das zweite Mal sah. Doch zwei Mal waren genug. Etwas war gesagt worden. Der Film hatte begonnen.
Sie blieben nicht lange. Harrison Glass und seine Frau blieben nicht länger als eine Stunde, während der Boaty von allen Gerichten probierte, den rotgesichtigen Baptistenmännern schmutzige Witze erzählte und selber darüber lachte, während ihm die Essenssäfte über das Kinn liefen, und er schwitzte wie ein Schwein. Sylvan nickte jedem charmant zu, sprach dabei jedoch kaum, sondern schaute einfach in die Gegend. Ein, zwei Blicke warf sie auch in Charlies Richtung, aber nicht mehr. Ihre großen grünen Augen funkelten und schienen sich einen Moment lang zu konzentrieren, wenn sie auf sein Gesicht fielen, scheinbar zufällige Blicke, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, während ihr Ehemann die Autotür für sie zumachte. Nicht mehr als das, aber das war genug.
Nachdem sie gegangen waren, wurde noch mehr gegessen und ein wenig getanzt – obwohl die Kirche damit offiziell nicht einverstanden war –, bis die Schatten auf dem improvisierten Spielfeld lang wurden und alle Kinder müde waren, bis der Geruch des Bratfetts allen in den Kleidern hing und alle Austern aufgegessen waren.
Die Dämmerung brach herein, um dann der Dunkelheit zu weichen, und jemand schaltete die Weihnachtslichterkette von irgendeinem Dachboden an, doch die Kinder fingen an zu quengeln, und Ray Turner fuhr die beiden Gadsden-Zwillinge nach Hause in ihr großes Haus, das größte in der ganzen Stadt, weil sie nicht selbst Auto fuhren und er als guter,
vorsichtiger Fahrer galt. Danach brachen alle auf, und die Gemeindemitglieder begannen all das aufzuräumen, was sonst Ungeziefer angelockt hätte, und ließen den Rest bis morgen liegen.
Charlie winkte den Haisletts zu, stieg in seinen Pick-up und fuhr hinaus zu seinem Stück Land am Fluss. Es war eine klare Nacht, die Sterne über den Weiden am Flussufer schienen zum Greifen nah, und er zündete sich eine Lucky Strike an und schrieb einen einzigen Namen in sein Tagebuch. Dann trank er sein Glas Whiskey, sprach seine gottlosen Gebete, legte sich hin und schlief ein. In ihm war nur ein einziger Gedanke, der hell in seinen Augen leuchtete und sein wildes Herz in Brand setzte wie Musik.
5. KAPITEL
E ines sollte zunächst einmal klargestellt werden: Sie war kein schlechtes Mädchen. Sie war eine Träumerin, und sie wünschte sich etwas, irgendetwas, das nur ihr
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