Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Wispern unter Baker Street: Roman (German Edition)

Ein Wispern unter Baker Street: Roman (German Edition)

Titel: Ein Wispern unter Baker Street: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
Vom Netzwerk:
ganz klein war, machte es mir Spaß, wenn ich für die Kirche fein angezogen wurde, und üblicherweise traf man da andere Kinder zum Spielen, aber meine Mum war nie sehr ausdauernd. Nach ein paar Monaten nahm sie einen Sonntagsputzjob an oder bekam Streit mit dem Pastor oder verlor einfach die Lust. Dann wurde der Sonntag wieder zu einem Tag, an dem ich zu Hause blieb, Zeichentrickfilme schaute und meinem Dad die Schallplatten wechselte.
    Ich stieg aus dem Auto und fand mich in einer unheimlichen Stille wieder. Alle Geräusche schienen gedämpft, und im Licht der Straßenlampen waren die Schaufenster blind und wirkten seltsam künstlich wie eine Filmkulisse. Die Wolken hingen tief und reflektierten düster den Lichtschein. Selbst das Zuschlagen unserer Autotüren wurde von der feuchten Luft geschluckt.
    »Sieht nach Schnee aus«, sagte Guleed.
    Kalt genug war es jedenfalls. Meine Hände steckte ich in die Taschen, aber meine Ohren waren sofort eiskalt. Guleed zog sich eine dicke Pelzmütze mit Ohrenschützern über ihren Hijab und warf Carey und mir – barhäuptig und mit blauen Ohren – einen amüsierten Blick zu.
    »Praktisch und schicklich«, sagte sie.
    Keiner von uns gönnte ihr den Triumph einer Antwort. Wir machten uns auf den Weg zu der Gasse.
    »Woher haben Sie die Mütze?«, fragte ich.
    »Meinem Bruder geklaut.«
    »In der Wüste kann’s ganz schön kalt werden, hab ich gehört«, bemerkte Carey. »Da braucht man so was wohl.«
    Guleed und ich wechselten einen Blick, aber was will man da schon machen?
    Während Mayfair sich längst den Oligarchen ergeben hat, führt Notting Hill nun schon jahrzehntelang ein heldenhaftes Rückzugsgefecht gegen die heimtückisch steigende Flut des Kapitals. Wer auch immer für die Renovierung dieser Hintergasse zuständig war, er hatte ein feines Gespür für die örtliche Atmosphäre bewiesen, denn wie kann man deutlicher signalisieren »Ich bin Teil eines vibrierend lebendigen Stadtviertels«, als wenn man die ganze Gasse mit einem fetten Sicherheitstor abriegelt? Guleed, Carey und ich standen vor den Gitterstäben wie drei viktorianische Waisenkinder.
    Es war eine der typischen Hintergassen in Notting Hill, eine Sackgasse mit Kopfsteinpflaster, gesäumt von den einstigen Stallungen und Kutschenhäusern der Oberschicht, die heute zu Einfamilienhäusern und Wohnungen konvertiert waren. An solchen Orten hatten früher schwule Kabinettsmitglieder ihre Liebhaber untergebracht, als so etwas noch ein Skandal gewesen wäre. Heutzutage wimmelte es hier vermutlich von Bankern und den Kindern von Bankern. Die Fenster waren alle dunkel, aber auf jedem freien Fleck in der engen Gasse parkten auf denkbar chaotische Weise BMWs, Range Rovers und Mercedes.
    »Was meinen Sie, sollen wir auf Stephanopoulos warten?«, fragte Carey.
    Wir überdachten die Frage sorgfältig, aber nicht zu lange, denn die Nichtreligiösen unter uns froren sich die Ohren ab. Am Tor war eine graue Sprechanlage angebracht. Ich drückte die Nummer von Gallaghers Haus. Keine Antwort. Ich probierte es noch ein paarmal. Nichts.
    »Könnte auch kaputt sein«, sagte Guleed. »Sollen wir’s bei den Nachbarn versuchen?«
    »Die würde ich lieber noch raushalten«, sagte Carey.
    Ich sah mir das Tor näher an. Es war mit breiten stumpfen Zacken besetzt, doch dazwischen waren große Abstände, und direkt vor dem Tor stand ein weißer Poller, der eine günstige Trittstufe abgab. Das Metall unter meinen Händen war so kalt, dass es schmerzte, aber in weniger als fünf Sekunden hatte ich den Fuß auf die obere Querstange des Tors gesetzt und mich hinübergeschwungen. Als ich auf den Boden sprang, rutschte ich kurz auf dem Pflaster aus, konnte mich aber noch fangen, ehe ich hinfiel.
    »Neun Komma fünf, was meinen Sie?«, fragte Carey Guleed.
    »Neun Komma zwei. Für die Landung gibt’s Punktabzug.«
    An der Wand hinter dem Tor befand sich knapp außer Reichweite eines durchs Gitter gestreckten Armes ein Türöffnungsknopf. Ich drückte ihn und ließ die beiden rein.
    Da wir alle Londoner waren, hielten wir einen Moment lang inne, um die rituelle Schätzung der Immobilie vorzunehmen. Dank der Lage tippte ich auf eine Million plus.
    »Anderthalb mindestens«, schätzte Carey.
    »Mehr«, meinte Guleed.
    Neben der Eingangstür hing eine alte Kutschenlaterne, nur um ein Zeichen zu setzen, dass guter Geschmack auch mit viel Geld nicht zu kaufen ist. Ich drückte auf den Klingelknopf, und wir hörten es im Obergeschoss klingeln.

Weitere Kostenlose Bücher