Eindeutig Liebe - Roman
anderer Frauen liebte.
Also rannte ich durch die Straßen und raste um Ecken, als blätterte ich die Seiten eines Buches um, das ich unbedingt zu Ende lesen wollte. Die Straßenschilder nahm ich nur verschwommen wahr. Die Menschen hatten keine Gesichter, und sie sprachen, ohne dass ich einen Laut hörte. Vielleicht verlor ich den Verstand. Vielleicht brauchte ich Hilfe. Bitte, kann mir jemand helfen?
Mein Herz hämmerte, und meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Ich musste hier weg. Während ich mit meinen hochhackigen Schuhen über den Beton klapperte, stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, einfach in den nächsten Zug nach Heathrow zu steigen, irgendwohin zu fliegen und niemals wieder zurückzukommen.
Ich musste mit jemandem sprechen, egal mit wem. Also stieg ich in die U-Bahn und fuhr nach Covent Garden. Hier waren noch mehr Menschen, Scharen von Fremden, durch die ich hindurchmusste. Ich rannte den ganzen Weg zu dem merkwürdigen Tanzbekleidungsgeschäft, das ich vor so langer Zeit besucht hatte. So verrückt es auch klingen mag, ich wollte mit der seltsamen alten Dame sprechen. Vielleicht hatte sie ja Verständnis für mich.
Als ich um die letzte Ecke bog und zu dem Schaufenster rannte, war die Tür jedoch verschlossen. Im Geschäft war es dunkel. Das ist eigenartig, dachte ich und rang nach Luft. Dann entdeckte ich den zerknitterten Zettel, der mit Tesafilm innen an der Scheibe befestigt war. Ich drückte meine Nase gegen das Glas und las das, was jemand mit unsicherer Schrift darauf geschrieben hatte:
Liebe Kunden,
die Familie Tarasov möchte Ihnen für Ihre Treue und Freundlichkeit danken, die Sie unserer lieben Tante in all den Jahren entgegengebracht haben. Mit großem Bedauern geben wir bekannt, dass sie am 16. Oktober nach einem kurzen Kampf gegen den Krebs verschieden ist.
Vielen Danke für Ihre guten Wünsche
Mark Tarasov
Ich las den Zettel noch einmal und stieß einen lauten Seufzer aus. Erschöpft stützte ich mich mit den Händen gegen das Glas. Es beschlug von meinem Atem. Ich sank am Fenster herunter, wobei meine Finger eine Schweißspur auf dem Glas hinterließen. Dann brach ich auf dem schmutzigen Gehsteig zusammen.
»Komm schon, Mann, sei nicht so schüchtern!«
Nick
Siennas Lieblingssänger ist ein Mann namens John Legend. Generell finde ich ihren Musikgeschmack entsetzlich. Auf ihrem iPod ist so viel Zeug, bei dem mir das Mittagessen hochkommt. Aber bei Legend kann ich eine Ausnahme machen. Er singt so unglaublich, dass man sich selbst bei der Frage ertappt, ob es wirklich möglich sein kann, dass ein Mensch solch eine Stimme besitzt.
Einmal habe ich überlegt, ob er vielleicht ein Roboter ist, der in einem versteckten Studio irgendeiner Plattenfirma erschaffen wurde, wo sie die musikalischen Größen dieser Welt gefangen halten und ihr Talent über Kanülen in kleine Reagenzgläser absaugen. Die Stimme John Legends ist so schmeichelnd und so samtig, dass man fast die Fähigkeit zu gehen einbüßt. Ich schwöre, dass mir einmal die Hose runtergerutscht ist, als ich mir in der Küche sein Album anhörte. Er muss wirklich Glück bei den Frauen haben, das ist alles, was ich dazu sagen kann …
Er singt nicht nur, als gäbe es kein Morgen, er spielt auch Klavier – und auch das kann er. Ich wette, er könnte ein Album aufnehmen, während er sich die Zähne putzt und die Fußnägel schneidet.
Als ich erfuhr, dass er nach London kommen würde, bestellte ich sofort Karten vor.
»Chloe, möchtest du nicht mit mir zu John Legend gehen?«, fragte ich und warf einen Blick in den Flur. Ich konnte sehen, wie sie sich die Beine mit Feuchtigkeitscreme einrieb. Sie hatte sich ein Handtuch um die Körpermitte geschlungen und sah aus wie einem Fernsehspot entsprungen; ihre Haut hatte dasselbe Leuchten.
»Igitt. Nein! Nimm doch Sienna mit!«, antwortete sie.
»Okay.«
Hatte ich von Anfang an gehofft, dass es so kommen würde? Auf jeden Fall war mir klar gewesen, dass Chloe ein John-Legend-Konzert für völlig uncool halten würde.
»Si, hast du einen Augenblick Zeit?«, flüsterte ich ins Telefon.
»Ja, Süßer, was gibt’s?«, fragte sie. Im Hintergrund hörte ich, wie ihr Vater mit jemandem sprach.
»Ich habe eine Überraschung für dich.«
»Was denn?«
»Wir gehen Donnerstagabend aus, nur du und ich. Du hast doch Zeit, oder? Bitte sag, dass du Zeit hast!«, flehte ich und spielte mit einem Untersetzer, der auf meinem Schreibtisch lag. Er bestand aus durchsichtigem Plastik
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