Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
nicht, um ein Leid zu verhindern, das nicht wir gesetzt und zu verantworten haben, sondern andere.«
»Dann stell dir statt des entführten Kindes ein Attentat von Terroristen vor. Ihre Bombe wird das Atomkraftwerk in die Luft jagen. Die Polizei faßt einen von ihnen vorher. Die Bombe tickt. Sie schreien ihn an, drohen ihm. Er läßt sich nicht einschüchtern. Die verhörenden Polizisten ohrfeigen ihn, schlagen ihm die Zähne ein. › Wo ist die Bombe ?‹ Nichts. Die Bombe tickt. Sie stellen ihn auf einen Stuhl und legen ihm eine Schlinge um den Hals. ›Du redest jetzt, oder ich kicke den Stuhl weg, du Dreckskerl!‹, zischt der Polizist. Die anderen starren ihn an, nun doch erschrocken. ›Folterverbot und Würde – leck mich am Arsch!‹, schreit er. ›Das halbe Land wird verseucht sein! Das halbe Land! ‹ Er hebt das Bein gegen den Stuhl. Der Terrorist redet. Die Bombe wird entschärft.
Er kommt vor Gericht wegen Verstoßes gegen das Folterverbot und Mißachtung der menschlichen Würde. Er hat ein Schlußwort: ›Ich möchte den distinguierten Herren in den Richterroben etwas sagen‹, beginnt er. ›Wenn wir ihn nicht gefoltert und mit dem Tod bedroht hätten, wären Sie alle nicht hier. Sie wären tot, oder Sie wären verstrahlt. Daß Sie noch hier und noch gesund sind, verdanken Sie mir, der ich mir die Finger schmutzig gemacht habe. Sie werden mich verurteilen – irgendwie. Aber das interessiert mich einen Dreck. Ich sage Ihnen: Es war richtig , was ich getan habe. Wenn ein anderer an meiner Stelle es nicht getan hätte, dann aus Feigheit : weil er sich die Finger nicht schmutzig machen wollte. Oder aus moralischer Eitelkeit, aus Selbstgefälligkeit: ›Seht her, ich bin einer, der die Würde des Menschen auch jetzt noch achtet. Ich lasse mir meine Kultur der Würde von niemandem kaputt machen! Und wenn dabei das halbe Land zugrunde geht!‹ Ich sage Ihnen: So einer ist ein Fetischist der Würde – einer, der jeden Sinn für die Proportionen verloren hat. Und Sie, die Sie mir die Paragraphen der Würde um die Ohren hauen – wissen Sie, was Sie sind: lächerliche Bürokraten der Würde , die auch dann noch zwanghaft auf ihren Paragraphen bestehen, wenn die Lage so außergewöhnlich und gefährlich ist, daß die gesetzlichen Vorschriften ihr offensichtlich nicht gewachsen sind. Und auch dieses sage ich Ihnen: Wer sich an meiner Stelle geweigert hätte, sich die Finger schmutzig zu machen, der hätte versagt und wäre schuldig geworden. Schuldig an den Opfern. Er hätte seine moralische Integrität verloren. Und jetzt drehe ich den Spieß einmal um: Er hätte seine eigene Würde verloren . Weil er keinen Mut bewiesen hätte, keinen Sinn für die Proportionen, keine Selbständigkeit im Denken und Tun, keinen Respekt vor Tausenden von Toten und Verseuchten. Das ist die Wahrheit über die menschliche Würde in diesem Fall. Und nun bitte: Verurteilen Sie mich! Verurteilen Sie mich, weil ich meiner Würde gerecht geworden bin!‹
Und? Was würdest du zu ihm sagen? Würdest du immer noch sagen: Ganz gleich, wie groß das Leid sein mag – es ist der Preis für eine Kultur, in der die Würde unantastbar ist? Sogar, wenn dabei die physischen Grundlagen für diese Kultur vernichtet werden?«
»Ich bin verwirrt. Es ist schwer, sich den Argumenten des Polizisten zu entziehen. Und nicht nur den Argumenten. Auch seinen Gefühlen kann man sich schwer entziehen. Es sind starke moralische Empfindungen, und es wird niemanden geben, der sich ihnen ganz verschließen kann, auch wenn es nur im geheimen geschieht. Wir wären, wenn die Dinge so geschehen würden, froh, heilfroh , daß er zur Schlinge greift. Wir wären ihm dankbar . Es wäre albern und unaufrichtig, das zu leugnen. Und weißt du: Ich will es auch nicht leugnen. Aber ich bin verwirrt: Gleichzeitig nämlich denke ich, daß auch ich recht habe. Eine Würde, die verhandelbar ist und im Prinzip auch zur Disposition gestellt werden kann: Das ist doch eigentlich keine mehr. ›Die Würde des Menschen ist unantastbar – außer, wo sie antastbar ist‹ – was wäre das noch für eine Würde? Das wäre doch eine ganz andere Kultur als die, von der unser Grundgesetz spricht. Und darin möchte ich eigentlich nicht leben. Aber die Rede des Polizisten werde ich auch nie mehr vergessen. Wie gesagt: Ich bin verwirrt. Es muß doch eine stimmige Einstellung zu diesen Dingen geben, eine, die nichts leugnet und zurechtbiegt, weder in der einen noch in der anderen Richtung.
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