Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
komplizierter, daß er von uns eine endlose Tätigkeit verlangt, die viele von uns als sinnlos empfinden. Selbstbestimmung ist hier also nicht gleich Selbstbestimmung.«
»›Jeder Mensch ist ein Zweck in sich, ein Selbstzweck‹, könnte er sagen. ›Deshalb muß man meinem Willen stattgeben.‹«
»Man wird ihm antworten, daß sich die Idee des Selbstzwecks nicht auf gefühllose Körper bezieht, die künstlich am Leben erhalten werden, sondern auf erlebnisfähige Personen. Ich würde ihm vor Augen führen, was ich dir bei früheren Gelegenheiten ausgemalt habe: wie abstrus und abstoßend die Vorstellung ist, daß der Körper, in dem man einst als erlebendes Subjekt gewohnt hat, nun gefühllos, herrenlos und dunkel für endlose Zeit an der Pumpe hängt.«
»Er lasse sich nicht von deinen Vorstellungen tyrannisieren, wird er vielleicht sagen. Ihn stoße diese Vorstellung keineswegs ab. Und er wird auf die Selbstbestimmung zurückkommen.«
»Dann werde ich ihn daran erinnern, daß Würde nicht nur Selbstbestimmung bedeutet, sondern auch die Bereitschaft, unsere Endlichkeit und Sterblichkeit zu akzeptieren. Und daß er mit seinem Wunsch nach endlosem Hinauszögern des Sterbens gegen die Würde in diesem Sinne verstößt. Jemanden sterben lassen, wenn er als Subjekt des Erlebens erloschen ist – das ist das Natürliche, und in dieser Natürlichkeit liegt hier die Würde. Jemandem den Tod vorenthalten, wenn es in ihm dunkel geworden ist – das ist unnatürlich und würdelos.«
»Du hast gegen die ärztliche Bevormundung immer betont: Ich lasse mich nicht durch fremde Vorstellungen von Würde tyrannisieren. Zur Selbstbestimmung gehört auch, daß jeder sein eigenes Verständnis von Würde haben kann und darin respektiert werden muß. Was ist, wenn einer dir entgegentritt und sagt: ›Ihre Vorstellung von Würde als natürliches Sterben ist nicht meine Vorstellung. Und Sie haben kein Recht, meine Verfügung, der eine andere Vorstellung zugrunde liegt, beiseite zu schieben, nur weil sie nicht in Ihre Vorstellungswelt paßt.‹ Und es könnte noch enger werden. Vielleicht ist er ein Anhänger einer Religion, die verlangt, daß der Körper mit allen Mitteln am Leben erhalten werden muß – für immer. ›Die Sicht meiner Religion ist nicht weniger wert als Ihre Sicht‹, wird er sagen.«
»›Ja‹, würde ich antworten. ›Aber Ihre Sicht bedeutet für uns die Tyrannei einer endlosen Pflege, die wir als sinnlos betrachten, nicht zuletzt, weil Sie sie gar nicht erleben. Sie können nicht erwarten, daß wir uns dieser Tyrannei von einem beugen, den es als bestimmendes Subjekt längst nicht mehr gibt.‹«
»Und wie ist es, wenn wir jemanden vor uns haben, der unwiderruflich ins Koma gefallen ist, ohne etwas dazu gesagt und ohne etwas verfügt zu haben?«
»Wenn wir sicher sind, daß er nie wieder zurückkommt, sollten wir ihm seinen Tod gönnen. Seine Würde verlangt das. Nach unserem Maßstab. Und einen anderen haben wir von ihm nicht gehört.«
Dem Leben ein Ende setzen
Es ist denkbar, daß jemand eines Tages findet: Jetzt habe ich genug gelebt; länger soll es nicht mehr dauern. Es muß kein unglückliches, entbehrungsreiches Leben gewesen sein. Seine Empfindung ist nicht: Ich habe genug gelitten. Es kann ein Leben gewesen sein, in dem sich Glück und Unglück die Waage hielten, ein durchschnittliches Leben. Es kann sogar ein vorwiegend glückliches Leben gewesen sein, in dem die Umstände ihm erlaubten, nach seinen Wünschen und Fähigkeiten zu leben. Es geht ihm nicht um das Ende eines Leidens. Es geht ihm um etwas anderes: um das Gefühl, daß er nicht mehr neugierig darauf ist, was die Zukunft bringen könnte. Er erwartet nicht mehr, von sich selbst noch überrascht werden zu können.
Er ist aus dem Beruf, den er gern gemacht hatte, ausgeschieden mit dem Gefühl, daß es nun genug war mit dieser Tätigkeit: mit ihren Wiederholungen im Tun, im Gelingen und Mißlingen, in der Anerkennung und Enttäuschung, in den Worten, die jeden Tag zu wechseln waren, in den gewohnten Scherzen und Ritualen, im wechselnden Licht der Jahreszeiten im Büro. Nicht, daß er nicht ab und zu vorbeiginge und einen Blick zum Fenster hinaufwürfe, hinter dem er so viele Jahre verbracht hatte. Um sich dann im Café gegenüber den Erinnerungen zu überlassen, die überwiegend positiv sind. Ab und zu wartet er auch ab, daß frühere Kollegen auf der anderen Straßenseite vorbeigehen. Doch die Besuche dort werden seltener. Das Leben
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