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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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bekommt immer mehr einen anderen Rhythmus: Reisen, für die er früher keine Zeit gehabt hatte, Bücher, Musik. Ein bewußteres Erleben der Jahreszeiten. Der Tod seiner Frau ist Jahre her, ihr Fehlen in der Wohnung ist zur Gewohnheit geworden, und manchmal ist er unsicher, ob es noch ein gewohntes Fehlen ist oder kein Fehlen mehr.
    Was ihn am meisten stört: daß er mit sich keine neuen Erfahrungen mehr macht. Daß es vorhersehbar ist, was er am Abend, am nächsten Tag, im nächsten Monat fühlen wird. Nicht, daß es unangenehm wäre, was er empfindet. Nur ist es immer seltener etwas Neues, Überraschendes. Immer öfter haben die Erfahrungen den schalen Geschmack der Wiederholung. Diesen Geschmack haben im übrigen auch die Dinge, die er sagt und die man zu ihm sagt. Manchmal fragt er sich verwundert, wie er diese ungezählten Wiederholungen all die Jahre und Jahrzehnte ausgehalten hat. Manchmal sind ihm die Wiederholungen jetzt so zuwider, daß er lieber nichts sagt als etwas Abgedroschenes. Was mit ihm los sei, fragt man ihn dann.
    Er blättert in Reisekatalogen. Die eine oder andere Landschaft, die eine oder andere Gasse – doch, die würde er noch sehen mögen. Aber all die Wiederholungen vorher: am Bahnhof, auf dem Flughafen, im Auto, im Hotel. Und all die Floskeln, die er hören und sagen müßte. Müde? Vielleicht, aber nicht im Sinne der Erschöpfung wie nach langen Zeiten des Leidens. »Meine Seele ist meines Lebens überdrüssig«, hat er irgendwo gelesen. Ist es das? Vielleicht, aber nicht im Sinne einer ärgerlichen Abwehr. Eher einfach das Gefühl: Es ist genug. Es reicht.
    Er liest die einschlägigen Dinge über Depression. Er erkennt sich darin nicht wieder. Darum geht es nicht. Überhaupt geht es nicht um eine seelische Störung. Er kommt sich nicht leidend vor, nicht wie einer, dem etwas fehlt. Werde ich froh sein, wenn es vorbei ist, das ganze Leben und Erleben?, fragt er sich manchmal. Dann lacht er über den Unsinn der Frage. Ist sie vielleicht ein Zeichen, daß ich doch noch weitermachen will?, fragt er sich. Denn es kommt in ihr ja ein Wunsch nach einem Erleben zum Ausdruck: der Wunsch danach, das Ende allen Erlebens zu erleben.
    Er war in einer Familie groß geworden, in der es aus religiösen Gründen nicht in Frage kam, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Das war Frevel, das war Sünde. Er hatte das nie verstanden und sich nie zu eigen gemacht. Wer sollte Herr über das eigene Leben sein, wenn nicht man selbst? Wenn man in dieser Frage, die die wichtigste aller Fragen war, nicht selbst entscheiden konnte: Worüber konnte man denn sonst selbst entscheiden?
    »Er muß über etwas sehr verzweifelt gewesen sein«, würden sie am Grab sagen. Er widerspricht ihnen schon jetzt. »Wer sagt denn«, ruft er ihnen in seine stumme Zukunft hinein zu, »daß einer es nicht deshalb tun kann, weil er einfach genug hat? Von allem, sogar vom Genughaben?«
    Doch das ist gewiß nicht das häufigste Motiv, seinem Leben ein Ende zu setzen. Wenn jemand es tut, dann meistens, weil er sein Leben, wie es geworden ist, nicht mehr erträgt. »Nicht überhaupt zu leben, ist ein Gut, sondern gut zu leben«, schrieb Seneca an Lucilius. »Du wirst auch Lehrer der Philosophie finden, die es ablehnen, dem eigenen Leben Gewalt anzutun und es für Frevel halten, wenn einer zum Mörder seiner selbst wird: Man müsse auf das Ende warten, das die Natur bestimmt hat. Wer so spricht, sieht nicht, daß er den Weg in die Freiheit verschließt. Ich soll auf die Grausamkeit einer Krankheit oder eines Menschen warten, wo ich doch mitten durch die Qualen hindurch ins Freie treten und Widrigkeiten verscheuchen könnte? Das ist das einzige, weswegen wir über das Leben nicht klagen können: Es hält niemanden fest.«
    Von welcher Art können die Gründe sein, die ein Leben so unerträglich machen, daß wir nicht länger an ihm festhalten wollen? Und was haben sie mit unserer Würde zu tun?
    Es gibt den Selbstmord als Fluchtreflex oder als plötzliche Handlung aus einem dunklen, unbeherrschbaren Impuls heraus. Wenn er so geschieht, könnte man vielleicht sagen: Das hat nichts mit Würde zu tun, weder so noch so. Die ganze Kategorie paßt hier nicht. In anderen Fällen jedoch geschieht es im klaren Bewußtsein, daß die Würde auf dem Spiel steht. Seneca berichtet von einem Mann, der den wilden Tieren vorgeworfen werden sollte. »Als neulich einer unter Bewachung zum Vormittagsschauspiel herbeigefahren wurde, ließ er, als nicke er

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