Eine besondere Herzensangelegenheit
Chefsekretärin umsah, stellte ich zwei Dinge fest:
Erstens zog sie Rolf gerade über meinen Kopf hinweg mit den Augen aus, was auf einen langen Abend schließen ließ.
Und zweitens kippte sie dabei munter das bereits dritte Glas Wein in sich hinein.
Ich seufzte. Das bedeutete wohl, dass ich lieber die Finger vom Alkohol lassen sollte, sonst würde keine von uns mehr zurückfahren können.
In diesem Moment war ich mir sicher, dass die höhere Macht nicht nur eine kleine Pause eingelegt, sondern sich endgültig von mir verabschiedet hatte. Wie sonst konnte es sein, dass sich die ganze Welt gegen mich verschwor?
Nur Sekunden später wurde ich in meiner Schlussfolgerung bestätigt.
Die Aufregung war mir anscheinend auf die Blase geschlagen, jedenfalls musste ich dringend zur Toilette. Ich schob meinen Stuhl nach hinten, stand auf – und sah Sebastian direkt ins Gesicht.
Er lächelte mich an. »Hallo Isabelle, schön, dass wir uns mal wieder sehen«, meinte er. Es klang unverfänglich.
Ich wunderte mich, dass er im Gegensatz zu mir überhaupt nicht erstaunt zu sein schien, dass wir uns hier begegneten. Doch plötzlich dämmerte es mir. Natürlich, ich hatte ihm an dem Abend im Blue Moon erzählt, wo ich arbeitete. Und selbstverständlich musste er gewusst haben, welche Firma auf dem Weingut eine Veranstaltung hatte.
Ich presste wütend die Lippen zusammen. Er hatte also wohl schon damit gerechnet, dass wir uns an diesem Abend über den Weg laufen würden, während ich dastand wie ein begossener Pudel mit Dauerwelle.
»Entschuldige, ich muss mal dringend wohin«, stieß ich ohne Begrüßung hervor und wand mich an ihm vorbei.
Als ich ein paar Minuten später von der Toilette zurückkam, stellte ich fest, dass ich in der Falle saß: Sebastian stand etwas abseits von der langen Tafel und beobachtete die Feiernden, hatte sich aber so hingestellt, dass ich unweigerlich an ihm vorbei gehen musste, um auf meinen Platz zurückzukehren.
Unschlüssig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Ich überlegte mir gerade verzweifelt einen Ausweg, als mir ausgerechnet mein Chef zu Hilfe kam. Ohne es zu ahnen, versteht sich.
Plötzlich ertönte von der rechten Seite der langen, U-förmigen Tafel ein unterdrückter Schrei. Karin sprang auf und fing an zu husten und zu würgen. Ihre Augen quollen dermaßen aus den Höhlen, dass sie aussah wie ein Frosch auf Speed. Mit einem Mal würgte sie einen Schwall Rotwein hervor und verteilte ihn gleichmäßig auf der weißen Tischdecke und dem ebenso weißen Kleid von Emilia, ihrer direkten Vorgesetzten und momentanen Tischnachbarin.
»Würmer!«, keuchte Karin japsend, während das Gesicht ihrer Chefin eine ähnliche Farbe annahm wie ihr Kleid, inklusive der Rotweinflecken.
Alle Gespräche um sie herum waren verstummt. Die anderen Kollegen starrten Karin verständnislos an, und auch Sebastian war sichtlich verwirrt. Er war an sie herangetreten und versuchte zu helfen, doch sie wimmerte nur weiter von Würmern und Getier.
Schnell nutzte ich die Gelegenheit, um wieder zu meinem Platz zurückzukehren. Mir hatte ein einziger Blick genügt, um zu wissen, was passiert war, nämlich der auf meinen Chef. Zinkelmann saß auf seinem Stuhl und feixte in sich hinein. Es war nicht zu übersehen, dass er sich diebisch über seinen gelungenen Streich freute. Und ausnahmsweise war ich mit ihm einer Meinung.
Nicht nur, dass er mich vor einer ungewollten Begegnung mit Sebastian bewahrt hatte, diesmal hatte er mit seinen Scherzartikeln genau die richtigen zwei Opfer erwischt. Und es fiel mir schwer zu sagen, wer es mehr verdient hatte, Karin oder Emilia.
»Gut, dass das Knallbonbon keine Betriebsferien mehr hat, was?«, wisperte ich meinem Chef zu, als ich an ihm vorbeiging.
Er nickte eifrig.
»Wurmpillen«, erklärte er ungeniert. »Sind ganz kleine Kügelchen, und man kann sie in jedem Getränk verwenden. Die Würmer sehen täuschend echt aus.«
»Scheint so«, stimmte ich mit einem Seitenblick auf die immer noch nach Atem ringende Karin zu. »Und ausnahmsweise haben Sie heute meine volle Unterstützung.«
Wir tauschten noch einen verschwörerischen Blick, dann begab ich mich zurück an meinen Platz und setzte mich auf Linas Stuhl. Notgedrungen, denn sie hatte wohl die Entfernung zu ihrem Schwarm nicht mehr ausgehalten und war direkt neben Rolf gerutscht, der sich derweil ganz darauf konzentrierte, Linas Oberschenkel unter ihrem Rocksaum zu untersuchen.
»Lina, mach bloß keinen Unsinn«,
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