Eine betoerende Schoenheit
gefühlt haben, als man ihren Charakter so achtlos verleumdet und herabgewürdigt hatte, ohne sich auch nur einen Deut um die Wahrheit scheren?
Am Morgen schaute er im Frühstückszimmer vorbei. Er hatte zuvor schon in seinem Arbeitszimmer gefrühstückt, doch er wusste, dass sie für gewöhnlich hier etwas aß und dabei die Tageszeitungen oder oft auch eine Ausgabe der Nature las.
Sie war nicht da.
„Sie ist spazieren gegangen, Sir“, unterrichtete ihn Richards.
„Wo?“ Die Ländereien um Algernon Haus herum waren riesig. Sie konnte Meilen entfernt sein.
„Darüber hat sie uns nicht informiert, Sir. Sie sagte nur, man solle nicht vor dem Mittagessen mit ihr rechnen.“
„Wann ist sie aufgebrochen?“
„Vor etwa zwei Stunden.“
Es war noch nicht einmal neun Uhr. Wenn sie nicht vorhatte, vor dem Mittagessen wieder da zu sein, würde sie gute sechs Stunden im Freien verbringen. „Sie lassen eine Frau, die …“
Christian zügelte sich. Bisher wusste niemand von ihrem Zustand. „Schicken Sie Gerald zu mir. Sagen Sie ihm, er solle sich beeilen.“
Gerald, der Obergutsverwalter, war leicht außer Atem, als er ankam. „Euer Gnaden?“
„Hat Ihnen die Herzogin Fragen über den Steinbruch gestellt?“
„Ja, Sir.“
„Wann?“
„Gestern, Sir.“
„Hat sie sich nach dem Weg dorthin erkundigt?“
„Das hat sie, Sir. Ich habe ihr einen Plan gezeichnet. Sie hat ebenfalls nach den Ausgrabungswerkzeugen gefragt, und ich habe ihr von der Hütte erzählt, in der alle Geräte lagern.“
„Ist die Hütte denn nicht abgeschlossen?“
„Sie hat mich um meinen Schlüssel gebeten, und ich gab ihn ihr.“
Zehn Minuten später saß Christian auf seinem Pferd und galoppierte in Richtung Steinbruch.
Die Überreste des Steinbruchs bestanden aus einem fast geschlossenen steilen Rund, von dem aus eine Rampe bis auf den Boden führte. Um die Rampe zu erreichen, musste er seinen Hengst einen kleinen Hügel hinauflenken. Bei dem Anblick, der nach dem Erklimmen der Anhöhe auf ihn wartete, stockte ihm der Atem.
Dort, auf der Hälfte der Erdrampe, die er einige Jahre zuvor gebaut hatte, um die höheren Bereiche des Hangs leichter zu erreichen, sah er seine Baronin mit dem verschleierten Hut, der einen so großen Teil ihres geheimnisvollen Zaubers ausgemacht hatte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und meißelte an einer vielversprechenden Sedimentschicht herum, die nach spätem Trias aussah. Nachdem sie Hammer und Meißel beiseitegelegt hatte, nahm sie eine Bürste und entfernte Erde und Staub von einem ockerfarbenen Knochenstück, das aus der Erde ragte. Die ganze Zeit über pfiff sie eine schwungvolle Arie aus „Rigoletto“ in heller und tonsicherer Klangfarbe, bis ihr auf der Mitte eines hohen, langgezogenen Tones die Luft ausging und sie stockte. Sie musste lachen.
Als er ihr Lachen hörte, war er wieder auf dem Ozeandampfer, und ihn erfasste unendliche Sehnsucht.
Er handelte, griff die Zügel fester oder drückte seinem Hengst die Schenkel in die Flanken. Das Pferd tänzelte, seine Hufe schlugen auf dem Boden auf, und es wieherte.
Sie sah über ihre Schulter. Die Vorderseite des Schleiers war nach hinten über ihren Hut geschlagen. Ihr Gesicht wies Schmutzspuren auf, ihre außergewöhnlichen Augen waren unter der ausladenden Krempe kaum zu sehen. Dennoch merkte er, wie sein Verstand aus dem Gleichgewicht kam, wie die tief in ihm eingebrannte Erwartung, dass er die Welt und seine Mitmenschen beeinflussen sollte, nicht andersherum, ins Wanken geriet.
Er trieb sein Pferd voran. Am Fuße des Abhangs gab es einen Pfosten. Er band das Tier dort an und machte sich auf den Weg hinauf.
„Wie hast du mich gefunden?“
„Es ist nicht besonders schwer zu erraten, welchen Teil meines Anwesens du am liebsten für dich entdecken möchtest. Was hast du gefunden?“
Sie warf ihm einen Blick zu, der zeigte, dass seine Höflichkeit sie offenbar überraschte.
„Einen sehr kleinen Schädel. Ich hoffe darauf, dass es ein junger Dinosaurier ist, aber das ist unwahrscheinlich. Dafür liegt er zu weit in der Tertiärschicht.“
„Sieht aus wie eine Amphibie“, urteilte er.
Sie blickte nicht direkt zu ihm hinüber. „Ich bin trotzdem ganz aufgeregt.“
Stille machte sich breit. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Für einen Wissenschaftler, der sich an harte Fakten hielt, war es ein absoluter Irrweg gewesen, zuzulassen, dass er sich in seinen Entscheidungen von einer falschen Annahme nach der nächsten hatte
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