Eine Braut zu Weihnachten
Blicken ihrer Dienerschaft zu urteilen, als Veronica alle bis auf den Butler für die Nacht entließ, konnte man meinen, es sei nichts Ungewöhnliches für sie, was sie heute Abend tat.
Mit einem Glas Brandy in der Hand ging Veronica nervös in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Es gab nichts Besseres, um Mut zu gewinnen, als Brandy. Wer hätte gedacht, dass der Plan, einen Mann zu verführen, so nervenaufreibend sein würde? Irgendetwas nicht annähernd so Nettes wie Schmetterlinge flatterte in ihrem Magen. Außerdem war es durchaus möglich, dass Sebastian gar nicht kommen würde. Immerhin war er merkwürdig schockiert gewesen, als sie ihn gefragt hatte, ob er sie zu verführen gedachte. Nur ein Narr würde nicht erkannt haben, dass diese Frage, verbunden mit ihrer Einladung, nur bedeuten konnte, dass sie reif war, verführt zu werden. Du liebe Güte, ja – sie würde platzen , wenn sie noch ein bisschen reifer wäre!
Was war also los mit diesem Mann? Oder vielleicht lag ja das Problem bei ihr. Nein. Mit einer gereizten Handbewegung wischte sie den Gedanken schnell beiseite. Dass sie sich nur von einem einzigen Mann hatte verführen lassen, bedeutete nicht, dass andere Männer es im Laufe der Jahre nicht versucht hatten. Und ganz abgesehen von Sebastian taten sie es noch immer. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zu einem der beiden italienischen Spiegel, die in reich verzierten, vergoldeten Rahmen steckten und die offene Tür zu ihrem Schlafzimmer flankierten, um noch einmal sehr sorgfältig ihr Aussehen zu überprüfen.
Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein französisches Negligé aus vielen Lagen bernsteinfarbener Seide und Spitze. Völlig unpraktisch zum Schlafen, was aber keine Rolle spielte, da Schlafen ohnehin nicht in ihrer Absicht lag. Mit ihrem offenen Haar, das ihr in großen Locken auf die Schultern fiel, und ihren geröteten Wangen – die zweifellos auf ihre Nervosität und den Brandy zurückzuführen waren – sah sie hübsch und verführerisch aus. Eigentlich sogar verdammt unwiderstehlich, dachte sie. Lord Chutley schien das jedenfalls gedacht zu haben. Sie reckte das Kinn, nickte sich im Spiegel zu und wandte sich dann ab, um ihre nervöse Wanderung durch das Zimmer wiederaufzunehmen.
Wo blieb Sebastian? Er hatte doch bestimmt inzwischen genug Zigarren geraucht und den Erinnerungen der alten Herren des Clubs gelauscht. Veronica hatte mehr als ausreichend Zeit gehabt, um Tante Lotte nach Hause zu bringen, zu dem Haus, das sie sich mit Veronicas Vater und Großmutter teilte, selbst nach Hause zu fahren und in dieses mit Rüschen besetzte Instrument der Verführung zu schlüpfen. Er müsste längst da sein. Wenn er nicht bald kam, würde sie es sich vielleicht noch anders überlegen.
Und wenn er nun beschlossen hatte, nicht zu kommen? Der Gedanke ließ Veronica innehalten, und schnell trank sie einen kleinen Schluck von ihrem Brandy. Es war ihr erstes Glas, und sie hatte nicht die Absicht, dem Alkohol zu sehr zu frönen. Heute Abend musste sie ihren Verstand beisammenhalten. Doch falls Sebastian nicht kam …
Ärgerlich ließ sie sich auf ihrer Chaiselongue nieder. Vielleicht begehrte er sie einfach nicht genauso sehr wie sie ihn, obwohl sie das eigentlich bezweifelte. Schließlich konnte sie das Verlangen in seinen Augen sehen, wenn er sie anschaute, und es in der Berührung seiner Hand spüren, wenn sie die ihre streifte. Und als sie ihn geküsst hatte – nein, da war sein Verlangen unverkennbar gewesen. Ebenso wie das ihre. Also musste es einen anderen Grund geben, warum er noch nicht erschienen war.
Sie ließ sich die verschiedensten Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Erstens: Vielleicht machte Sebastian sich Gedanken über die Schicklichkeit eines abendlichen Besuchs, was jedoch überhaupt keinen Sinn ergab. Der Mann mochte zwar nicht mit »Legionen« von Frauen zusammen gewesen sein, wie es hieß, aber man erwarb sich keinen Ruf wie seinen, wenn man davor zurückschreckte, mit einer Frau allein zu sein. Zweitens: Sebastian wurde vielleicht noch immer von irgendwelchen männlichen Beschäftigungen aufgehalten, mit denen die Mitglieder des Explorers Club sich bis spät in die Nacht hinein befassten. Drittens: Er könnte von einer Kutsche überfahren worden sein, und jetzt schleppten Ratten seine zerstückelten Körperteile davon, um sie sich tief in der Kanalisation in aller Ruhe einzuverleiben.
Veronica nippte wieder ärgerlich an ihrem Brandy. Wenn er Glück hatte, war es die
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